Obliegenheiten vor Eintritt des Versicherungsfalles
Vertragliche Obliegenheiten sind solche, die vertragsspezifisch oder in den AVB festgelegt werden. §28 VVG regelt die Konsequenzen, wenn der Versicherungsnehmer solche Obliegenheiten verletzt hat, bevor und teilweise auch nachdem ein Versicherungsfall eingetreten ist.
Beispiel: Vertragliche Obliegenheiten sind zum Beispiel in der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung der Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis (Führerschein), Fahren ohne Alkoholeinfluss oder dass das Fahrzeug nur durch eine vertraglich zugelassene Person gesteuert wird. In der privaten Hausratversicherung dürfen Waschmaschinen bei längerer Abwesenheit von der Wohnung nicht betrieben werden. Gekippte oder geöffnete Fenster in einer Wohnung können den Schutz einer Versicherung gegen Einbruchdiebstahl außer Kraft setzen.
In dem Zusammenhang wird in diesem Unterabschnitt auch der Aspekt der Gefahrerhöhung diskutiert, da dessen Rechtsfolgen ähnlich denen bei Verletzung vorvertraglicher Anzeigepflichten und vertraglicher Obliegenheiten durch §§ 23-27 VVG geregelt werden.
Die Verletzung vertraglicher Obliegenheiten setzt Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit voraus. Der Versicherer darf in diesem Fall kündigen oder sich auf Leistungsfreiheit berufen. Gegenüber den vor 2008 in § 6 VVG-alt getroffenen Festlegungen enthält § 28 VVG einige Neuerungen, die die Stellung des Versicherungsnehmers verbessern.
So ist die einfache Fahrlässigkeit als Sanktionsgrund weggefallen. Bei grober Fahrlässigkeit ist zudem nicht mehr automatisch volle Leistungsfreiheit, sondern eine Quotelung der Leistungspflicht vorgesehen. Sie richtet sich danach, ob die grabe Fahrlässigkeit im konkreten Fall näher am Vorsatz oder an der einfachen Fahrlässigkeit liegt. Der Versicherer ist allerdings leistungspflichtig, wenn die Obliegenheitsverletzung keine Auswirkung auf den Eintritt des Versicherungsfalles hat (Kausalitätserfordernis) und aufseiten des Versicherungsnehmers keine Arglist im Spiel war. Die Unterscheidung zwischen Vorsatz und Arglist eröffnet dem Versicherer die Möglichkeit, auch strafrechtliche Maßnahmen gegen einen Versicherungsnehmer zu ergreifen, der in betrügerischer Absicht gehandelt hat; die Beweisanforderungen sind im Strafrecht allerdings erheblich strenger. Nach altem Recht galt die Kausalitätserfordernis nur bei grober Fahrlässigkeit (§6(2) VVG-alt).
Wie bisher beträgt die Frist zur fristlosen Kündigung durch den Versicherer einen Monat, doch ist dies nun nicht mehr, wie noch in §6 (1) VVG-alt, zwingende Voraussetzung, um sich auf Leistungsfreiheit zu berufen. Die Unterscheidung zwischen Obliegenheitsverletzungen vor dem Eintritt des Versicherungsfalls (§6(2) VVG-alt) und danach (§6(3) VVG-alt) wurde aufgehoben.
Die genaue Einschätzung des zu versichernden Risikos ist Voraussetzung für die Festsetzung eines angemessenen Versicherungsbeitrags durch den Versicherer. Das dem Vertrag zugrunde liegende Risiko darf deshalb ohne dessen Einwilligung nicht erhöht werden. Von einer Gefahrerhöhung, die Auswirkungen auf die Fortdauer des Vertrages oder die Leistungspflicht des Versicherers hat, ist dabei nur auszugehen, wenn sich eine offenbar dauerhaft höhere Risikosituation ergibt, sodass die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt des Versicherungsfalles nicht nur kurzfristig steigt. Die Rechtsprechung geht überwiegend davon aus, dass solche kurzzeitigen Gefahrerhöhungen den Versicherer zumeist nicht nachteilig berühren, da häufig auf Leistungsfreiheit wegen Herbeiführung des Versicherungsfalles argumentiert werden kann.
Beispiel:
Wer einmalig mit dem versicherten Kraftfahrzeug alkoholisiert am Straßenverkehr teilnimmt, begeht dabei eine Obliegenheitsverletzung gemäß AVB. Der Versicherer ist deshalb berechtigt, den Versicherungsnehmer für Unfallschäden in Regress zu nehmen, die mit der Trunkenheitsfahrt in Zusammenhang stehen. Eine Gefahrerhöhung liegt aber nicht vor.
§ 23 (1) VVG folgend, darf der Versicherungsnehmer nach seiner Vertragserklärung gegenüber dem Versicherer – üblicherweise also nach dem Zeitpunkt der Antragstellung – keine Gefahrerhöhung vornehmen oder Dritten eine solche gestatten. Nach altem Recht war der Vertragsabschluss der maßgebliche Zeitpunkt. Deshalb bedurfte es dort noch einer Sonderregelung (§ 29 a VVG-alt) für den Zeitraum zwischen Antragstellung und Annahme durch den Versicherer, die mit der Reform entfallen konnte.
Die genannte Regelung bezieht sich auf eine so genannte gewollte Gefahrerhöhung, weil sie auf eine entsprechende Absicht des Versicherungsnehmers abstellt. Dabei kann auch die Unterlassung üblicher Maßnahmen als gewollte Gefahrerhöhung gewertet werden. Davon sind ungewollte Gefahrerhöhungen zu unterscheiden, die der Versicherungsnehmer nicht selbst veranlasst oder gestattet hat, beispielsweise die Einlagerung feuergefährlicher Stoffe auf einem benachbarten Betriebsgelände.
Ergibt sich eine gewollte Gefahrerhöhung nachträglich, ist dies dem Versicherer unverzüglich zu melden (§23(2) VVG). Unterlässt dies der Versicherungsnehmer, kann der Versicherer bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit fristlos, bei einfacher Fahrlässigkeit mit einer Frist von einem Monat kündigen. Wird eine gewollte oder ungewollte Gefahrerhöhung nachträglich angezeigt, kann der Versicherer ebenfalls mit einer Frist von einem Monat kündigen. Das Kündigungsrecht verfällt, wenn es nicht innerhalb eines Monats vorgenommen wird, nachdem das Unternehmen von der Gefahrerhöhung Kenntnis erlangt hat (§ 24 VVG).
Analog zu den Bestimmungen bei der Verletzung vorvertraglicher Anzeigepflichten kann der Versicherer rückwirkend auch einen der erhöhten Gefahr entsprechenden Beitragszuschlag fordern oder das erhöhte Risiko durch eine Änderung der Vertragsbedingungen vom Versicherungsschutz ausschließen. Der Versicherungsnehmer darf in diesen Fällen seinerseits den Vertrag kündigen (§ 25 VVG). Ein Beitragszuschlag als Alternative zur Kündigung war für den Versicherer nach altem Recht nicht vorgesehen.
Im Versicherungsfall kann der Versicherer sich bei vorsätzlicher Gefahrerhöhung vollständig, bei grober Fahrlässigkeit anteilig von der Leistungspflicht befreien. Leistungspflicht besteht ansonsten nach § 26 VVG in einem der folgenden Fälle, das heißt,
• wenn dem Versicherer die Gefahrerhöhung bereits bekannt war,
• wenn die Gefahrerhöhung unverschuldet oder fahrlässig zustande kam (bei grober Fahrlässigkeit findet auch hier die Quotelung Anwendung),
• wenn die Gefahrerhöhung nicht ursächlich für den Eintritt des Versicherungsfalles war,
• wenn der Versicherer die einmonatige Frist zur Kündigung ungenutzt verstreichen ließ.
Obliegenheiten nach Eintritt des Versicherungsfalles
Die meisten Aussagen aus unserem Versicherung-Ratgeber betreffen auch die Situation nach Eintritt eines Versicherungsfalles. Besonders treten die Anzeigepflicht (§30 VVG) und die Auskunftspflicht (§31 VVG) hinzu. Die Regelungen sind inhaltlich nur insofern erweitert worden, als die früher auf die Lebensversicherung beschränkten Pflichten für bezugsberechtigte Dritte nun gleichlautend auf alle Versicherungszweige Anwendung finden.
Der Versicherungsnehmer muss demzufolge einen Versicherungsfall unverzüglich dem Versicherer mitteilen, sobald er davon Kenntnis erlangt hat. Viele AVB legen Fristen fest; gesetzlich fixiert ist zum Beispiel eine Anzeigefrist von einer Woche in der Haftpflichtversicherung (§ 104(1) VVG). Üblich ist eine AVB-Regelung, nach der die Mitteilung in Schriftform zu erfolgen hat. Wird in relevantem Sinn gegen Anzeigepflichten aus den AVB verstoßen, regelt § 28 VVG die Voraussetzungen für Leistung oder Leistungsfreiheit des Versicherers.
Im Zusammenhang mit der Prüfung des Versicherungsfalles darf der Versicherer alle Informationen einfordern, die für Art und Höhe der Leistung wichtig sein können. Dies kann sehr weit gehen und Fragen nach früheren Schäden, Vermögensverhältnissen des Versicherungsnehmers, Anschaffungspreisen beschädigter oder gestohlener Sachen etc. beinhalten. Belege darf der Versicherer fordern, wenn dies dem Versicherungsnehmer im Rahmen der Umstände zuzumuten ist.
Der Versicherungsnehmer hat eine Mitwirkungspflicht zur uneingeschränkten Offenlegung des Sachverhaltes. Diese beschränkt sich nicht auf die zutreffende Beantwortung von Fragen des Versicherers, sondern erfordert auch die Nennung maßgeblicher Fakten, nach denen nicht ausdrücklich gefragt wurde.
Macht der Versicherungsnehmer zunächst falsche Angaben, die er später korrigiert, kann sich der Versicherer dennoch weiterhin auf eine Obliegenheitsverletzung berufen, wenn beispielsweise eine Täuschungsabsicht vermutet werden kann und es wahrscheinlich ist, dass der Versicherer die Falschangabe selbstständig aufgedeckt hätte.
Lässt der Versicherungsnehmer Fragen unbeantwortet, kommt eine Leistungsfreiheit für das Versicherungsunternehmen nur in Betracht, wenn Nachfragen ergebnislos geblieben sind. Auch bei offensichtlichen Fehlern besteht eine Pflicht des Versicherers zur Nachfrage.
In der Schadenversicherung spielen in größerem Umfang als in der Summenversicherung Maßnahmen zur Schadenminderung eine wichtige Rolle. Sie sind vertragsrechtlich unter dem Leitbegriff der so genannten Rettungspflicht geregelt. Die bisherigen Bestimmungen wurden im Reformgesetz an die Neuerungen bei Obliegenheitsverletzungen angeglichen, ansonsten aber beibehalten. Kernstück ist § 82 VVG. Demnach hat ein Versicherungsnehmer im Rahmen seiner Möglichkeiten beim Eintritt des Versicherungsfalles Schäden zu vermindern oder abzuwenden. Nach dem Grundsatz der Selbstverantwortlichkeit kann vom Versicherungsnehmer ein Verhalten gefordert werden, wie es bei einem Unversicherten anzunehmen wäre.
Dabei hat er Weisungen des Versicherers zu folgen und sich sogar, wenn dies aus den Umständen heraus möglich ist, aktiv um entsprechende Anweisungen zu bemühen. Allerdings müssen diese Weisungen zumutbar sein.
Beispiel:
Das Versicherungsunternehmen darf nicht die Reparatur eines Fahrzeugschadens im Rahmen der Kaskoversicherung bei einer bestimmten Werkstatt fordern, wenn dadurch die Werksgarantie für das Fahrzeug aufgehoben würde.
Unterlässt der Versicherungsnehmer diese Rettungsmaßnahmen vorsätzlich, ist der Versicherer von der Leistungspflicht befreit, bei grobem Vorsatz darf er die Leistung im Verhältnis zur Schwere der Obliegenheitsverletzung kürzen (Quotelung). Allerdings wird auch hier das Kausalitätsprinzip angewendet: Die Obliegenheitsverletzung muss auf den Versicherungsfall oder die Leistungshöhe oder deren Feststellung Einfluss haben. Nur arglistiges Verhalten des Versicherungsnehmers zieht in jedem Fall die Leistungsfreiheit des Versicherers nach sich. Quotelung und Kausalitätsprinzip stellen Änderungen gegenüber den bisherigen Regelungen von § 62 VVG-alt dar, die analog zum Vorgehen bei anderen Obliegenheitsverletzungen eingeführt wurden.
Für den Eintritt des Versicherungsfalles wird die so genannte Vorerstreckungstheorie vertreten. Danach beginnt die Rettungspflicht bereits dann, wenn ein Versicherungsfall unmittelbar bevorsteht. Dies lässt sich dadurch begründen, dass eine Schadenabwendung, wie das Gesetz sie fordert, nach Eintritt des Versicherungsfalls sachlich nicht mehr möglich ist.
Da der Versicherer von Rettungsmaßnahmen des Versicherungsnehmers profitiert, hat er auch für Kosten, die diesem dadurch entstehen, aufzukommen. Der Umfang folgt der bereits beschriebenen Leistungspflicht für Schäden. Wird dort die Leistungspflicht im Rahmen einer Pflichtverletzung des Versicherungsnehmers quotiert, gilt dies auch für den Ersatz von Aufwendungen. Es kommt bei den Aufwendungen aber nicht darauf an, ob sie tatsächlich von Erfolg gekrönt waren. Auch unbeabsichtigte Beschädigungen oder Zerstörungen von Gegenständen gelten in diesem Sinne als Aufwendungen von Rettungsmaßnahmen. In jedem Fall reicht es aus, wenn der Versicherungsnehmer subjektiv den Eindruck hatte, einen Schaden abwenden zu müssen, auch wenn dieser objektiv gar nicht hätte entstehen können.
Beispiel:
Wird heim Ausweichmanöver vor einem Reh das Fahrzeug beschädigt, ist die Teilkaskoversicherung schadenersatzpflichtig. Bei einem Feldhasen liegt der Fall anders: Hier wäre der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt, da der Schaden durch das Ausweichmanöver als bedeutend höher anzunehmen ist, als wenn der Autofahrer einen Anprall riskiert hätte.
Beispiel: Führt ein nicht ausbreitungsfähiger Kabelbrand zu Löschwasserschäden, fallen auch diese unter den Aufwendungsersatz der Gebäudefeuerversicherung (vgl. auch Schimikowski).
Die Summe aus Entschädigung für den eigentlichen Versicherungsschaden und Rettungskosten darf allerdings nur dann die Versicherungssumme übersteigen, wenn die Rettungsmaßnahmen vom Versicherer angeordnet worden sind.
Zurechnung des Verhaltens Dritter
Das Verhalten, aber auch die Kenntnis Dritter können für die Klärung der Leistungspflicht eines Versicherers entscheidend sein. Zum Beispiel stellt sich die Frage, wie ein Verhalten einer dritten Person zu beurteilen ist, das beim Versicherungsnehmer eine Obliegenheitsverletzung wäre und daher den Versicherer von der Leistungspflicht freisteilen würde. Die Rechtsprechung hat für derartige Fälle im Versicherungsrecht verschiedene Begriffe geprägt, die nachfolgend kurz skizziert werden.
a) Repräsentant
Der Repräsentant vertritt den Versicherungsnehmer selbstständig und in substanziellem Umfang. Hier greift die Repräsentantenhaftung, das heißt, der Versicherungsnehmer muss sich das Verhalten des Repräsentanten zurechnen lassen. Verletzt der Repräsentant eine Obliegenheit, wird dies so behandelt, als habe der Versicherungsnehmer selbst die Obliegenheitsverletzung begangen. Wegen der drastischen Konsequenzen für den Versicherungsnehmer sind die Anforderungen an einen Repräsentanten recht streng. So gelten üblicherweise Mieter einer Wohnung oder selbst Ehegatten als Mitnutzer eines Kraftfahrzeuges nicht als Repräsentanten. Obliegenheitsverletzungen durch Dritte führen deshalb umgekehrt auch nicht zum Wegfall der Leistungspflicht seitens des Versicherers.
Beispiel:
Eltern, die das ausschließlich von den Kindern genutzte und auch gewartete Fahrzeug zur Vermeidung hoher Fahranfängerbeiträge versichern, müssen sich Kaskoschäden oder Obliegenheitsverletzungen zurechnen lassen (vgl. Schimikowski). Der Versicherer leistet in diesem Fall gegenüber dem Geschädigten bei berechtigten Ansprüchen, kann aber den Versicherungsnehmer in Regress nehmen.
b) Wissenserklärungsvertreter
Wird ein Dritter im Rahmen der Regulierung eines Schadens vom Versicherungsnehmer beauftragt, die mit dem Vertrag verbundenen Obliegenheiten wahrzunehmen, spricht man von einem Wissenserklärungsvertreter. Hier gelten schwächere Anforderungen als beim Repräsentanten: Der Wissenserklärungsvertreter wird vom Versicherungsnehmer damit betraut, in dessen Namen Erklärungen im Rahmen der Anzeige- und Auskunftsobliegenheiten abzugeben. Geschieht dies beispielsweise aus Vorsatz fehlerhaft, entfällt folglich die Leistungspflicht aus dem Versicherungsvertrag.
c) Wissensvertreter
Ein Wissensvertreter ist im Unterschied zum Wissenserklärungsvertreter durch den Versicherungsnehmer damit beauftragt, an seiner Stelle Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, die das Versicherungsverhältnis betreffen. Diese werden dann so gewertet, als habe der Versicherungsnehmer selbst davon Kenntnis erhalten.
Beispiel:
Der Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung eines Unternehmens stellt fest, dass in seinem Bereich Mitarbeiter fahrlässig mit Passwörtern der EDV-Anlage umgehen. Wirkt er nicht auf größere Sorgfalt der Mitarbeiter hin, kann ein Ausfall der Computersysteme durch einen externen Hackerangriff, der eigentlich einen Versicherungsfall der Betriebsunterbrechungsversicherung auslösen würde, beim Versicherer zur Leistungsfreiheit führen.