Der Bund der Versicherten entdeckte Ende der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine Broschüre, die in Millionenauflagen kostenlos an Schulen verteilt und beim Wirtschaftsunterricht eingesetzt wurde. In dem so genannten Schülerheft betreibt eine angeblich gemeinnützige Arbeitsgemeinschaft in Zusammenarbeit mit dem Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft unverhohlen irreführende Werbung, indem sie die Lebensversicherung als die dritte Säule im System der Altersvorsorge darstellt (was sie nicht ist) und schreibt, dass Lebensversicherer das Geld ihrer Kunden treuhänderisch verwalten (was sie nicht tun) und dass das Aufsichtsamt Missstände verhindert, indem es den Versicherern genau auf die Finger sehe (was nicht der Fall ist).
Die Arbeitsgemeinschaft beschreibt sich als eine gemeinnützige Vereinigung aus Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern, Pädagogen und Publizisten, die die wirtschaftliche und soziale Bildung vor allem junger Menschen fördert. Sie plant und entwickelt unter anderem Maßnahmen, die geeignet sind, die Kenntnisse über wirtschaftliche Zusammenhänge und die soziale Ordnung unserer Gesellschaft zu verbreiten. Die Arbeitsgemeinschaft finanziert sich durch Spenden von Auftraggebern, die gleich direkt an die Druckerei gehen, die die bestellten Broschüren in Millionenauflagen druckt. Das Raffinierte an diesem Komplott: Während man den Versichererverband als Herausgeber wegen unlauteren Wettbewerbs belangen könnte, ist dies gegenüber der Arbeitsgemeinschaft kaum möglich, weil man ihr keine Wettbewerbsabsicht nachweisen kann. Der BdV hat allerdings erreicht, dass die zuständigen Ministerien vieler Bundesländer ein Verteilungsverbot der Schülerhefte erlassen haben.
Intransparente Bedingungen und unvollständige Verbraucherinformationen
Die Manipulation der Bundesbürger setzt sich fort durch eine irreführende Werbung zur Lebensversicherung als der angeblich dritten Säule unseres Altersvorsorgesystems und mit den Lügen von Branchenfunktionären, das Geld der Versicherten werde von den Lebensversicherern treuhänderisch verwaltet. Hinzu kommen unzulängliche Verbraucherinformationen, die den Lebensversicherern seit 1995 gesetzlich vorgegeben sind als Ausgleich dafür, dass die Versicherungsbedingungen seit Mitte 1994 nicht mehr einer Vorabkontrolle durch das Aufsichtsamt unterliegen. Aber kein Anbieter hat in diesen Informationen bisher über die Nachteile Kapital bildender Versicherungen informiert.
Auch in den Versicherungsbedingungen steht darüber nichts. Der Bund der Versicherten geht seit Ende 1996 gerichtlich gegen die unzulänglichen Verbraucherinformationen vor und gegen die ab 1995 geltenden Lebensversicherungsbedingungen, die alle deutschen Lebensversicherer nahezu wortgleich verwenden. Möglicherweise können alle Lebensversicherten ihre gezahlten Beiträge zurückverlangen oder wenigstens höhere Rückkaufswerte oder Überschussbeteiligungen fordern. Nach einem rechtskräftigen Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart (2 U 219/98) vom 28. Mai 1998 darf die Allianz Lebensversicherungs- AG Klauseln in ihren Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB), die die Abschlusskosten und Überschussbeteiligung bei Kapital- Lebensversicherungen regeln, nicht mehr verwenden.
Zu den Überschüssen, an denen die Versicherten beteiligt werden, schreibt die Allianz – ähnlich wie alle deutschen Lebensversicherer – in ihren Bedingungen:
… Aus den Erträgen der Kapitalanlagen, den Beiträgen und den angelegten Mitteln werden die zugesagten Versicherungsleistungen erbracht sowie die Kosten von Abschluss und Verwaltung des Vertrages gedeckt. Je höher die Kapitalerträge sind, je weniger vorzeitige Versicherungsfalle eintreten und je kostengünstiger wir arbeiten, umso größer sind die Überschüsse, an denen wir Sie und die anderen Versicherungsnehmer beteiligen. Die Überschussermittlung erfolgt nach den Vorschriften des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) und des Handelsgesetzbuches (HGB) und den zu diesen Gesetzen erlassenen Rechtsverordnungen
. Die Gewinnbeteiligung nehmen wir nach Grundsätzen vor, die im Einklang mit § 81c VAG stehen. … Von den Überschüssen kommt den Versicherungsnehmern ein angemessener Anteil als Gewinnbeteiligung zugute. Die Frage der Angemessenheit unterliegt nach § 81 c VAG der Prüfung durch die Aufsichtsbehörde. …
Daraus soll sich ergeben, was die Nürnberger Leben in einem anderen Musterprozess des Bundes der Versicherten geradezu zynisch geschrieben hat: Die Art und Weise der Verwendung der Prämie ist allein Sache des Versicherers. Tatsächlich kann ein Normalverbraucher nicht erkennen, dass die Versicherer die Prämien für Kostenverschwendungen missbrauchen und in stillen Reserven oder im Konzern verschwinden lassen und dadurch einseitig die von ihnen geschuldeten Leistungen bestimmen können. Das Oberlandesgericht Stuttgart hat die Klausel für unwirksam erklärt mit der Begründung: Es fehle eine Klarstellung zu den Nachteilen der Kapital-Lebensversicherung. Die Klauseln enthielten keinerlei Regelungen für den Umfang der geschuldeten Leistung. Sie erweckten aber den Eindruck, als sei der Leistungsumfang konkret geregelt. Tatsächlich habe die Allianz Spielräume, um den Umfang der geschuldeten Leistungen zu bestimmen.
Der Versicherungsnehmer werde beim Vertragsabschluss nicht hinlänglich informiert und erfahre auch später nicht, was ihm zustehe und wofür genau er bislang Prämien entrichtet habe. Selbst mit anwaltlichem Rat könne er dies nicht ermitteln und auch eine Abrechnung nicht auf ihre Richtigkeit überprüfen. Die Allianz hatte eine Revision beim Bundesgerichtshof (BGH) beantragt, den Antrag dann aber wieder zurückgezogen.
Der Bundesgerichtshof hat in einem anderen Verfahren gegen die Nürnberger zwei weitere Klauseln (zum Rückkaufswert und zur Beitragsfreistellung) für unwirksam erklärt, die von den Stuttgarter Richtern für unwirksam gehaltene Überschussbeteiligungsklausel dagegen für wirksam gehalten. Gegen diese BGH-Entscheidung hat der Bund der Versicherten im Jahre 2001 Verfassungsbeschwerde eingelegt.
Der BGH hat vermutlich aus überwiegend zweckmäßigen Erwägungen die Überschussbeteiligungsklausel gerettet. Richter überlegen sich nämlich sehr genau die praktischen Folgen ihrer Entscheidungen. Die wären verheerend gewesen, wenn der BGH die Klausel gekippt hätte. Denn was wäre danach geschehen?
Die Gesellschaften können nach Meinung eines BGH-Richters unwirksame Klauseln nicht einfach – ohne Zustimmung des Versicherten – durch neue Klauseln ersetzen (wie es die Allianz nach ihrer Verurteilung gemacht hatte). Sie müssten mit ihren Kunden für alle nach 1994 abgeschlossenen Kapital-Lebens- und privaten Rentenversicherungen neue Klauseln aushandeln. Wenn dann die angebotenen neuen Klauseln nicht den Vorstellungen der Versicherten von einer treuhänderischen und rationellen Verwaltung und Geldanlage entsprechen und nicht zu einer wesentlichen Verbesserung der Rendite führen, könnte jeder, der nach 1994 eine Kapital-Lebens- oder private Rentenversicherungen abgeschlossen hat, die Aufhebung seines Vertrages ab Beginn verlangen.
Die Versicherungsunternehmen müssten alle Beiträge plus sieben bis acht Prozent Zinsen an die Versicherten zurückzahlen. Möglicherweise müssten auch die Vermittler ihre Provisionen an den Versicherer zurückgeben. Es ist leicht vorstellbar, dass die Bundesrichter vor derartigen Folgen ihrer Entscheidung, die schätzungsweise 15 Millionen nach 1994 abgeschlossene Verträge betrifft, zurückgeschreckt sind und nach einer Möglichkeit gesucht haben, die Überschussbeteiligungsklausel für verständlich und wirksam zu erklären. Der rettende Strohhalm war der Hinweis der Versicherer darauf, dass die Kapitalerträge und die Sterblichkeit (vorzeitige Versicherungsfälle) den Umfang der Überschussbeteiligung beeinflussen. Der BGH meinte, die Versicherten wüssten aufgrund dieser Formulierungen, dass die Überschussbeteiligung unterschiedlich hoch ausfallen kann.
Richtig: Das weiß jeder! Aber keiner weiß und kann der oben-zitierten Klausel entnehmen, dass die Unternehmen die unterschiedlich hoch ausfallenden Überschüsse weiter dezimieren oder zu ihren Gunsten – z. B. zum Ausgleich von Kostenverschwendungen – missbrauchen und stille Reserven horten können. Und dieser – im Vergleich zu anderen Geldanlagen – wesentliche Nachteil für Versicherungskunden wird durch den Klauseltext nicht erkennbar. Der BGH hätte – wie zu den anderen für unwirksam erklärten Klauseln – entscheiden müssen, dass sie die wirtschaftlichen Nachteile der Regelung für den Versicherten nicht deutlich machen. Lesen Sie noch einmal die Klausel! Haben Sie nicht den Eindruck, zur Beteiligung der Versicherten an den Überschüssen aus ihren Geldern sei alles bestens geregelt und von einer staatlichen Aufsicht überwacht?
Glaubt man nicht, die Unternehmen könnten danach mit dem Geld der Versicherten nicht machen, was sie wollen; sie könnten unternehmerische Verluste nicht mit den Überschüssen aus Versichertengeld ausgleichen; sie dürften keine Abschreibungen auf das angelegte Versichertengeld vornehmen oder Teile davon verschwinden lassen? Das waren auch bei einer EMN/D-Meinungsumfrage die Antworten von etwa 80 Prozent der Befragten, denen die Klausel vorgelegt wurde. Und wegen dieser Irreführung haben die Richter des Stuttgarter Oberlandesgerichts die Klausel als intransparent angesehen und für unwirksam erklärt (siehe oben). Jetzt muss das Bundesverfassungsgericht entscheiden.