Wenn sie eine Versicherung abschließen, nehmen sie mit Vergnügen das Geld; passiert aber ein Unglück, so ist es anders, dann dreht einem jeder den Rücken zu und ist bestrebt, nicht zu bezahlen. (Klage eines Kaufmanns im 14. Jahrhundert in einem Brief an seine Frau)
Die Versicherungen verweisen gerne auf ihre lange Tradition. Sie stehen seit Anbeginn im Zeichen der Zerrissenheit des menschlichen Lebens: Ohne Risiko kein Fortschritt, doch strebt der Mensch zugleich nach Sicherheit. Sozialwissenschaftler sprechen auch von der wechselnden Erfahrung von Kontinuität und Veränderung. Geradezu symbolhaft beginnt so auch die Geschichte der Versicherungswirtschaft mit zwei denkbar gegensätzlichen Elementarrisiken: Wasser und Feuer. Der Beginn der Versicherungsidee liegt im Wasser, genauer in der Seefahrt – und damit im Unbekannten, dem Abenteuer. Die Versicherer verweisen auf biblische Ursprünge: Im sogenannten Seemannskapitel der Apostelgeschichte des Lukas (27,13 ff.) wird das Überbordwerfen von Gerätschaften aus einem Transportschiff im Jahre 60 geschildert. Solch Risiko einer Havarie – die Beschädigung eines Schiffes oder seiner Ladung während der Seereise – war angesichts der stets drohenden Gefahr von Wind, Wetter und Piraten schon einige Jahrhunderte vor Christi Geburt durch Risikoteilung gemildert. Es wurde unterschieden zwischen Schiff, Ladung und Fracht. Diese drei Teile trugen je nach ihrem Wert auch gemeinsam die Schäden, die einem von ihnen zur Rettung aus gemeinsamer Gefahr zugefügt wurden. Nur wenn das Schiff unterging, musste jeder den Schaden selbst tragen.
Die Versicherung begann als Gemeinschaftsidee: Gleichartige individuelle Risiken wurden gemeinsam getragen, der einzelne versichert. Händler aus dem alten Babylonien sicherten sich um 1750 v. Chr. gegen die Plünderung ihrer Karawanen durch Banden ab. Für 200 v. Chr. ist die Möglichkeit nachgewiesen, ein Seedarlehen (foenus nauticum) mit Zinsen aufzunehmen. Im Pariser Louvre ist ein Dioritblock zu sehen, dessen 282 eingemeißelte Klauseln unter anderem zeigen, dass eine solche Versicherung bekannt war. Der Schiffsrumpf wurde verpfändet: Ging das Schiff verloren, wurde dem Eigentümer der Schaden ersetzt. Erreichte das Schiff sein Ziel, musste er einen Teil des Erlöses abtreten. In Europa wurde diese Versicherung auf niederdeutsch Bodmerei genannt, eine Art seerechtliches Darlehensgeschäft. Später praktizierten auch Phönizier und Griechen diese Form der Versicherung. Der Selbsthilfegedanke spielte schon früh eine Rolle. Bei den Römern gab es die collegia tenuiorum. Das waren Vereinigungen von Leuten niederen Standes, die gegen Zahlung von festen Monatsbeiträgen hilfsbedürftige Mitglieder unterstützten und für ein angemessenes Begräbnis sorgten. Eine vollständige Satzung ist aus dem Jahr 130 nach Christus erhalten. Auch in Ägypten gab es Versicherungen als Sozialeinrichtung: Die Bauern zahlten in guten Erntejahren ein Fünftel ihres Getreides in eine Kasse ein. In schlechten Jahren konnten sie sich daraus ernähren. Die Reichen brauchten natürlich keine Versicherung: Ihr Vermögen sicherte sie bestens. Auch hier ist ein Trend der Zeit zu erkennen: Heute sind die Vermögen so egalitär verteilt, dass es sich beispielsweise nur noch 2 von 1000 Bundesbürgern leisten, nicht krankenversichert zu sein.
Mittelalter: Hoheitliche Verbote
Im Mittelalter boten die Gilden der Kaufleute und Zünfte der Handwerker häufig Versicherungen an. Bekannt ist eine Gilde aus der Zeit Karls des Großen. Sie gewährte bei Brand oder Schiffbruch Unterstützung. Die Versicherungsidee war jedoch nicht geduldet:
In einem Gesetz Karls des Großen von 779 wird Gildebrüdern die eidliche Bekräftigung ihrer Zusammenschlüsse zur gegenseitigen Unterstützung bei Brand, Schiffbruch und anderen Gefahren verboten. Die Anordnung hatte politisch-religiöse Gründe. Die Versicherungsidee war aber durch hoheitliches Verbot nicht aufzuhalten: Zünfte und Gilden erweiterten später ihr Angebot um bestimmte Leistungen bei Krankheit, Tod und Invalidität, die auch in einem kostenlosen Spitalaufenthalt bestehen konnten. Daraus entstanden selbständige Kranken- und Sterbekassen, oft nach dem Aufbewahrungsort des Vereinsvermögens als Laden bezeichnet. 1230 erging das kanonische Wucherverbot Papst Gregors IX. Es untersagte das Fordern von Zinsen und damit das Seedarlehen. Findige Kaufleute konnten aber dem Zinsverbot ausweichen: Statt in Form eines Darlehens wurde die Versicherung nun in Form eines fiktiven Kaufvertrages geschlossen, worin versprochen wurde, das Schiff zu kaufen, wenn es verlorenging. Das blieb jedoch eine Option, die nur bei Verlust eintrat. Dafür erhielt der Käufer eine Prämie. 1308 ist der erste Leibrentenvertrag zwischen dem Abt von St. Denis und dem Erzbischof von Bremen überliefert. Der Kauf einer Leibrente war ein Vorläufer der Lebensversicherung und eine Art Altersversorgung. Klöster und Städte gewährten gegen Kapital oder Land eine lebenslange Rente.
Neuzeit: Die ersten Versicherungsverträge
Das eigentliche Versicherungswesen beginnt erst mit dem Vertrag, der Grundlage des Geschäftes. Vorher war die Grundlage der Versicherungen vor allem das Prinzip der gegenseitigen Unterstützung bei Schadenfällen. Die neuzeitliche Versicherung ist jedoch ein juristisches Produkt: Es besteht ein Rechtsanspruch auf Unterstützung und die Pflicht zur Gegenleistung. Die ersten notariellen Versicherungsverträge tauchten in den italienischen Städten des 14. Jahrhunderts auf und wurden bereits als Policen bezeichnet. Die älteste bekannte Police stammt von 1347 aus Genua, es war ein Seeversicherungsvertrag. Ebenfalls aus Genua stammt auch der erste Rückversicherungsvertrag von 1370. Die Italiener prägten wie im Bankwesen auch die Begrifflichkeiten der Versicherung: Assekuranz, Police und Risiko. Der Begriff Assekuranz kommt vom italienischen assicuranza. Police stammt vom italienischen polizza und bedeutet Versprechen oder Verpflichtung. Sogar der Begriff Risiko stammt von dem altitalienischen Wort risco ab, das eine Klippe und damit die von Untiefen ausgehende Gefahr für die Schiffe bezeichnet. In Italien entstand die kaufmännische Versicherungswirtschaft zusammen mit der Ausbreitung des neuzeitlichen Handels, der ebenfalls dort seinen Ursprung hatte. Doch zunächst gab es nur kleine Versicherungsgenossenschaften sowie Einzelversicherer (etwa in der Seeassekuranz).
Die Grundlagen der modernen Versicherung: Rationalismus, Mathematik und Geld Rationalismus. Die moderne Versicherung setzt eine rationalistische Einstellung zum Leben und zur Welt voraus. Sie kam erst mit dem Rationalismus des 17. Jahrhunderts auf. Dazu gehört die Vorstellung, dass der Weltablauf festen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, die der Mensch erkennen und exakt fassen kann. Solange der Welten Lauf von unberechenbaren Dämonen abhängt oder ohnehin durch göttlichen Willen vorbestimmt ist, gibt es auch keine rechte Grundlage für umfassende Versicherungen. Die Sozialwissenschaftler Adalbert Evers und Helga Nowotny halten das Versicherungswesen für das magische Prinzip der Neuzeit. Im Altertum rief der Mensch die Götter an, sie mögen ihm beistehen. Im Mittelalter waren es Maria und die Heiligen, vor denen um Glück, Gesundheit und gute Geschäfte gebetet wurde. Doch Ende des 17. Jahrhunderts setzte sich die nüchterne Kalkulation durch: Die Kaufleute lehnten Übersinnliches ab, berechneten das Risiko und versicherten es gegen eine Prämie. Die Ausbreitung der Versicherung wurde jedoch durch juristische Bedenken gehemmt. Das römische Recht verbot, einen freien Menschen (wohl aber Sklaven) zum Gegenstand einer materiellen Bewertung zu machen. Oder: Liberum corpus aestimationem non recipit. Ein französischer Jurist vertrat noch im 18. Jahrhundert die Ansicht, das Leben des Menschen sei kein Handelsgegenstand. Es sei abscheulich, dass durch eine Lebensversicherung der Tod Gegenstand einer geschäftlichen Spekulation werde. Auch die Behörden sahen noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Abschluss einer Versicherung eine Spekulation des Versicherten mit dem Ziel der Bereicherung. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts unterlag daher der Abschluss privater Versicherungsverträge in Preußen strengen behördlichen Kontrollen: Eine Überversicherung war streng untersagt, Entschädigungen durften oft nur nach polizeilicher Kontrolle gezahlt werden.
Statistik. Über den Beginn der Moderne gibt es die verschiedensten Theorien. Eine davon ist, dass er mit der Blüte der Wahrscheinlichkeitsrechnung zusammenfällt. Der französische Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal ging Mitte des 17. Jahrhunderts nicht nur den Gewinnchancen beim Roulette nach, sondern auch beim Glauben. In den Pensees (Gedanken) beziffert er die Chance der Existenz Gottes auf 50 zu 50. Der Gewinn im Falle der Existenz sei jedoch unendlich. Wenn Gott nicht existiere, schade es dennoch nicht, an ihn zu glauben. Wenn er aber existiere und man nicht an ihn glaube, sei das Spiel verloren. Die wichtigste Formel der Versicherungsmathematik ergibt sich analog zu den Gewinnchancen: Risiko ist gleich Schadenhöhe mal Eintrittswahrscheinlichkeit. Damit soll das Risiko objektiviert werden. Die Versicherung macht die großen metaphysischen Rätsel der Menschheit erträglich: Tod, Krankheit und Unglücke aller Art verlieren ihren Schrecken. Die Wissenschaft der Mathematik versuchte in der Folge auch den Zufall mathematisch zu erfassen. Im 17. Jahrhundert entwickelten die um die Royal Society in London gruppierten Gelehrten und Verwaltungsfachleute die wissenschaftliche Statistik. Dazu gehörten der Nationalökonom William Petty (1623-1687) und der Statistiker John Grant (1620-1674) als Begründer der Politischen Arithmetik. Sie konzentrierten sich vor allem auf die Bevölkerungsstatistik mit Geburt und Tod und errechneten Sterbewahrscheinlichkeiten und Lebenserwartungen. Der Astronom Edmond Halley (1656-1742) entwickelte aus den statistischen Aufzeichnungen im Kirchenbuch des Breslauer Pfarrers Caspar Neumann die Breslau Table of Mortality, die erste mathematisch fundierte Sterbetafel. In Deutschland wurde die Wissenschaft der Statistik vor allem von dem Theologen Johann Peter Süssmilch (1707-1767) in seinem Buch Die göttliche Ordnung in den Verhältnissen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen (1741) vertreten. Das Gesetz der großen Zahl wird 1713 von Jakob Bernoulli formuliert.
Geldwesen. Voraussetzung des Versicherungswesens ist das Gelddenken. Denn definitionsgemäß ist die Versicherung die finanzielle Vorsorge für einen ungewissen, aber schätzbaren Bedarf. Alles Versicherbare muss in Geld ausgedrückt werden. Leben und Tod, Geburt und Heirat und auch der Verlust der Jungfräulichkeit werden zu Beginn des 18. Jahrhunderts versichert. Das unterscheidet die moderne Versicherung von den Vorsorgeeinrichtungen im Zeitalter der Naturalwirtschaft.
Individualisierung. Die moderne Versicherungswirtschaft ist auch ein Kind der Industrialisierung. Die ständische Ordnung und Familienordnung des Feudalismus garantierte dem einzelnen eine gewisse Mindestversorgung und gab ihm das Gefühl der Sicherheit. Mit der Industrialisierung wurden die vorherigen gesellschaftlichen Bindungen aufgelöst. Im Liberalismus war der einzelne auf einmal dem Kampf ums Dasein ausgesetzt. Damit wuchs das Bedürfnis nach individueller Lebenssicherung. Die Auflösung der Zünfte und die Einführung der Gewerbefreiheit machten den Weg frei für die unternehmerisch betriebene Schadenvorsorge. Der Staat versuchte dem Bedürfnis nach Sicherheit durch den Aufbau der Sozialversicherung zu begegnen. Sie trägt weitgehend fürsorgenden Charakter. Im Grunde entstehen zwei neue Sicherheitsnetze: die staatliche Fürsorge als Grundsicherung und die darüber hinausgehende Sicherung durch die Individualversicherung. Mit wachsendem Wohlstand aber wird aus dem Streben nach sozialer Sicherheit immer stärker die Nachfrage nach privaten Versicherungsleistungen, die schließlich auch noch mit einer Kapitalanlage verknüpft werden.