Der Chef einer Depotverwaltung hat Recht, wenn er in der WELT am SONNTAG sagt: Deutschland ist als drittgrößte Industrienation in Sachen Geldanlage ein Entwicklungsland. Schuld daran sind nicht nur der Gesetzgeber und die Medien, sondern Schuld daran ist auch die Mentalität des Deutschen, die es den Versicherungsgesellschaften und ihren Vermittlern so einfach gemacht hat, sie legal zu betrügen und auszubeuten. 82 Prozent der Deutschen eignen sich weniger für einen Versicherungsabschluss ohne Vermittler, meinte ein Vorstandsmitglied der Allianz, die 100 Jahre lang mit riesigen Vertreterheeren besonders erfolgreich war im Ausbeuten der Deutschen. Und er wird sich dabei die Hände gerieben haben; denn – umgekehrt – bedeutet seine Aussage: 82 Prozent der Deutschen sind die idealen Opfer für den legalen Betrug durch Kapital bildende Versicherungen.
Der Deutsche ist – bezogen auf seine Familie – durchaus verantwortungs- und vorsorgebewusst. Das weiß auch die Branche: Nennen Sie es Vorsorge, wir nennen es Liebe. So lautete ein Werbespruch der Hamburg Mannheimer. Und alle Prospekte der Lebensversicherungsunternehmen appellieren an diese Elternliebe mit farbigen Bildern von glücklichen Familien mit Kindern. Der amerikanische Aufsichtsbeamte ?lizur Wright bezeichnete diese Art der Werbung schon vor mehr als hundert Jahren als Falle, geködert mit Waisenkindern. Der Deutsche ist auch sehr auf finanzielle Sicherheit bedacht. Stirbt ein Versicherter, zahlt die Gemeinschaft aller Versicherten aus den bereitgestellten Beiträgen die Versicherungssumme an die Hinterbliebenen. Also neben Vorsorge und Sparen auch noch Gemeinsinn und gegenseitige Hilfe – praktizierte christliche Nächstenliebe.
Kein Wunder, dass Bürger, die von der Lebensversicherung nicht mehr kennen als die Branchenwerbung und Vertretersprüche, einem Branchenfunktionär glauben, die Versicherungs-Gesellschaften betrieben ein mehr karitatives und humanitäres als kommerzielles Gewerbe. Das glauben offenbar auch unsere Bundespräsidenten, die den Versicherungsmanagern laufend Bundesverdienstkreuze umhängen. Der Boss der schlimmsten Drückerkolonne Deutsche Vermögensberatung, Reinfried Pohl, hat für seine erfolgreiche Verbrauchergeld-Beseitigung schon zwei Bundesverdienstkreuze erhalten.
Hinzu kommt: Der Deutsche ist traditionsbewusst. Wenn schon die Urgroßeltern und Großeltern in der Sterbekasse waren und die Eltern auch eine Kapital-Lebensversicherung abgeschlossen hatten, dann muss man auch son Ding haben. Dass dieses Ding weder zur Familienversorgung noch als Altersvorsorge etwas taugt, erfährt er nicht. Verbraucherexperten haben oft den Eindruck, es interessiert ihn auch nicht. Diese traditionelle Bequemlichkeit und Unwissenheit in Geld-Dingen versuchte die Dresdner Bank zu brechen mit Anzeigen wie Ihre Großeltern haben nicht in Aktien investiert, Ihre Eltern auch nicht. Warum sollten Sie es tun? – Ob diese Werbung wohl richtig verstanden wurde und nicht eher nach hinten losgegangen ist (wenn man die eingangs abgedruckte Meinungsumfrage in Betracht zieht)?
Vielleicht haben einige die Kritik an der Kapital-Lebensversicherung wahrgenommen und wurden hin- und hergerissen zwischen Liebe und legalem Betrug. Aber selbst wenn sie die Kritik misstrauisch gemacht hat, sind die Deutschen immer noch zu bequem, sich über Alternativen, über Vorsorge und Geldanlage wie überhaupt über Wirtschaftsfragen eingehender zu informieren. Wenn schon Minister Waigel meinte, in Deutschland könne es mit seinen Verbraucherschutzgesetzen, Behörden und Gerichten keine Missstände im Versicherungswesen geben, dann kann man es den Deutschen nicht verübeln, wenn sie sich – vertrauensselig – auf diesen (nicht vorhandenen) Schutz durch Gesetzgeber, Staat und Aufsicht verlassen. Sie ahnen nicht, was Professor Engels in der Wirtschaftswoche feststellte: Abgeordnete des Bundestages haben die Deutschen über Jahrzehnte hinweg den Versicherern in die Arme getrieben, obwohl sie doch wissen mussten, dass deren Ersparnisse dort schlecht angelegt sind.
Grundlage des Erfolges der Kapital-Lebensversicherung waren – neben der vom Gesetzgeber geschaffenen Intransparenz und Steuersubvention – die provisionsgesteuerten Vermittler, die jedes Haus und jede Wohnung bis in den letzten Winkel der Republik heimsuchten und fast immer ahnungslose Abschlussopfer vorfanden, die nichts von einer Risiko-Lebensversicherung wussten, die keine anderen Geldanlagemöglichkeiten kannten, die auf die staatliche Aufsicht vertrauten und deren Vorfahren auch schon in der Sterbekasse waren.
Irregeführt durch Staat und Werbung (die Lebensversicherung sei die dritte Säule unseres Vorsorgesystems), uninformiert und unwissend ist der Normalverbraucher auf diese vermeintlichen Berater hereingefallen. Diese haben sein bisschen Misstrauen meistens über persönliche Beziehungen oder mit Psychotricks und durch die Vorlage von positiven Presseartikeln rasch beseitigt und ihm dann die traditionelle, staatlich geförderte, steuerbegünstigte Kapital-Lebensversicherung mit (gelogenen) Renditen von sieben bis acht Prozent als die ideale Kombination der Familien- und Altersvorsorge aufgeschwatzt – oder eine private Rentenversicherung als die noch rentablere ideale Ergänzung zur gesetzlichen Rente. – Etwas Verwirrung nach dem vielen Vertretergeschwätz, dann die große Erleichterung:
Ohne große Informationsstrapazen und nur durch das Anhören eines netten Beraters war mit einer einfachen Unterschrift das Thema Familien- und Altersvorsorge erledigt. Und die Police verschwindet – meist ungelesen – auf Nimmerwiedersehen in einer Schublade, wo sie – oft jahrzehntelang – als Zeitbombe tickt … bis zur Berufsunfähigkeit, bis zum Todesfall oder bis zur Auszahlung. Diese Unwissenheit und Bequemlichkeit hat die Deutschen bereits Hunderte von Milliarden Mark gekostet – bei miserabler Absicherung. Zum Glück hören aber immer mehr Deutsche das Ticken ihrer Zeitbomben. Mehr und mehr Bürger, die eine Lebensversicherung abgeschlossen haben, erkennen langsam, dass ihre Entscheidung falsch war. Sie wollen raus aus ihren Verträgen, sind aber meistens völlig hilflos.
Sie werden auch durch die großen Verluste bei einer Kündigung abgeschreckt. Dabei gibt es viele Möglichkeiten, aus falschen Kapitalversicherungen rauszukommen, über die Verbraucherzentralen und der Bund der Versicherten informieren. Selbst zu bereits gekündigten oder abgelaufenen Verträgen können möglicherweise noch Ansprüche geltend gemacht werden