Versicherungen werden nicht gekauft, sondern verkauft
(Alte Vertreterregel)
Die Fälle sind ebenso Legion wie die Zahl der Drückerkolonnen im Osten Deutschlands: Wohnheimbewohnern wurden Hausratversicherungen verkauft, obwohl gar kein Hausrat vorhanden war. Unwissende Ostdeutsche unterschrieben bis zu vier Lebensversicherungsanträge – angeblich weil ihre Unterschrift nicht leserlich war. Natürlich wollte die Versicherung hinterher auch vier Prämien von ihnen. Durch das Wild-Ost im ostdeutschen Versicherungswesen erlebten die als Drückerkolonnen oder Kloppertruppen bekannten Strukturvertriebe einen Aufschwung. Mehr als 80 000 freiberufliche Vertreter (Versicherungsjargon: Struckis) reisen klinkenputzend durch die Lande und streben in der – meist sechsstufigen – Hierarchiepyramide nach Höherem. Ihr Marktanteil am Neugeschäft der Versicherungen soll bereits 20 Prozent betragen. Ihr Makel: Sie stehen ständig unter Verkaufsdruck und vermitteln meist nur für Versicherer mit unterdurchschnittlichen Leistungen.
Auch für die Versicherer hat der Strukturvertrieb Nachteile: Die Provisionen für Kapital-Lebensversicherungen beispielsweise liegen nicht bei den üblichen drei bis 3,5, sondern bei vier bis fünf Prozent der Versicherungssumme – je nach Gesellschaft und je nach-dem, wie nötig diese das Drückergeschäft hat. Außerdem ist die Stornoquote des von ihnen vermittelten Geschäfts weit höher. Auf die Idee gebracht hatte Moses sein Schwiegervater Jitro: Sieh dich aber unter dem ganzen Volk um nach redlichen Leuten, die Gott fürchten, wahrhaftig sind und dem ungerechten Gewinn feind. Die setze über sie als Oberste über tausend, über hundert, über fünfzig und über zehn, dass sie das Volk allezeit richten. Nur wenn es eine größere Sache ist, sollen sie diese vor dich bringen, alle geringeren Sachen aber sollen sie selber richten. So mach dir’s leichter und lass sie mit dir tragen. Der Strukturvertrieb funktioniert genauso, nur die Auswahl der Leute geschieht weniger nach Gottesfürchtigkeit und Wahrhaftigkeit, sondern nach der Fähigkeit, dem Vertrieb Umsatz und damit Gewinn zu bringen.
Strukturvertriebe beruhen auf einer strengen Hierarchie von bis zu zehn Ebenen, vom einfachen Klinkenputzer bis zum Direktor irgendwas oder Strukturleiter. Jede Führungskraft darf sich eine eigene Struktur mit Haupt- und Nebenberuflern aufbauen. Das Geheimnis dieser Art von Vertrieb ist die Aufteilung der Provisionen durch das in den unteren Ebenen getätigte Geschäft auf alle Ebenen. Jede Hierarchiestufe erhält damit Anteile an den Provisionen aus allen Geschäften der ihm untergeordneten Mitarbeiter. Ein Landesdirektor kann für jede auf den ihm unterstehenden Ebenen abgeschlossene Lebensversicherung rund 30 € je 1000 € Versicherungssumme bekommen. Er verteilt die Summe nach unten weiter: Der Anfänger der untersten Stufe, der das Geschäft vermittelt hat, bekommt letztlich nur rund 10 €, als Nebenberufler sogar nur 3 bis 7 €. Oben lassen sich bis zu 2 Millionen € im Jahr kassieren. Entsprechend stehen auch die Parkplätze bei Führungstreffen voll mit Ferraris, Porsches und Jaguars. Alle Mitarbeiter treibt der Wunsch, nach oben zu kommen. Als Neuling auf den unteren Ebenen ist kaum etwas zu verdienen, je weiter man in der Hierarchie aufsteigt, aber umso mehr. Der Weg nach oben kann auf zwei Arten beschritten werden: Zum einen muss das vermittelte Geschäft eine gewisse Größenordnung erreichen, und zum anderen muss der Mitarbeiter genug andere Mitarbeiter gewinnen, damit weiterhin ein Unterbau da ist. Dazu muss der Führungsaspirant teilweise auch noch an recht teuren internen Seminaren teilnehmen, um seine Führungsqualifikation zu erlangen.
Das Grundübel des Strukturvertriebs ist der notwendige stete Zustrom an neuen Mitarbeitern (im Jargon Indianer genannt).
Die bekanntesten Namen von Strukturvertrieben sind:
OVB (früher Objektive Vermögens-Beratung) Allfinanzvermittlungsgesellschaft mbH & Co. KG, Köln (für Deutscher Ring, der auch mit 50,2 Prozent beteiligt ist, Volksfürsorge [Beteiligung 15 Prozent], Iduna, Hanse-Merkur, Stuttgarter, Axa Leben; 15 000 Mitarbeiter) Deutsche Vermögensberatung AG, Frankfurt (für Aachener und Münchener Versicherungen, deren fünfzigprozentige Tochtergesellschaft sie ist, Badenia, DIT-Investmentfonds der Dresdner Bank, Advocard. Sie ist der größte Strukturvertrieb mit 4 500 Haupt- und 4 500 Nebenberuflern. Ihr Neugeschäftsanteil bei der Aachener und Münchner Leben liegt bei fast 70 Prozent.) HMI (für Hamburg-Mannheimer) AWD Allgemeiner Wirtschaftsdienst Gesellschaft für Wirtschaftsberatung und Finanzbetreuung mbH, Hannover (für wechselnde Gesellschaften; 5 500 Mitarbeiter) Bonnfinanz AG, Bonn (Tochtergesellschaft des Deutschen Herold, heute im Besitz der Deutschen Bank; 2 500 Mitarbeiter)
Der Verschleiß bei ihnen ist hoch, wenige schaffen es, auch nur die erste Stufe der Hierarchie zu bewältigen. Die neuen Mitarbeiter werden geködert und müssen dann Geschäfte vermitteln. Am Anfang haben sie noch Erfolg in der Verwandtschaft oder in ihrer näheren Umgebung. Erst danach beginnt die Nagelprobe. Die meisten scheitern an ihr, sie haben dem Strukturvertrieb vermittelt, und das reicht für das Geschäft. In der Fachsprache wird dies System Zitronenpresse genannt. Nebenberufler geben meist nach vier Wochen wieder auf, Hauptberufler nach einigen Monaten. Aufgrund des alles dominierenden Strebens nach Provisionen ist die Qualifikation der Mitarbeiter gering: Sie wollen nicht beraten, sondern nur das schnelle Geschäft machen. Vor allem die provisionsträchtige Lebensversicherung wird von ihnen verkauft, teilweise auch unter dem Namen Sparplan. Hierbei werden zum Teil mehrere Lebensversicherungen mit Bausparverträgen verknüpft, umso einen alles umfassenden und sichernden Eindruck zu machen. Die Kapital-Lebensversicherung heißt bei den Strukturvertrieben oft ganz anders: Vermögensaufbauplan, Programm mietfreies Wohnen und so weiter. Teilweise kommen sie mit Bussen und grasen ganze Wohngebiete ab. Interne Wettbewerbe unter bestimmten Gruppen sorgen für stete Anreize: Da werden verdiente Verkäufer in die Ferienanlage im Süden eingeladen, es geht zum Blockhaus nach Skandinavien oder zum Shopping nach New York. Zugleich werden die Besten öffentlich ausgelobt und mit einer goldenen Uhr, Urkunden, Ehrennadel oder sogar einem Auto bedacht. Für die Star-Verkäufer gibt es Galaabende in noblem Rahmen-mit Champagner. Die Strukturvertriebe machen sich teilweise gegenseitig Konkurrenz. Insgesamt sollen rund 50 Strukturvertriebe bestehen. Über fast alle liegen den Verbraucherzentralen reichlich Beschwerden von Versicherten vor.
Karriere bei einem Strukturvertrieb
Die typische Drückerkarriere beginnt mit einem Inserat in der Zeitung. Einige Beispiele: Seriöse freundl. Leute ab 20 J. ges. z. Nebenb., später Hauptverdienst. Kommen Sie zu uns. Spaß am Erfolg heißt in erster Linie viel Arbeit. Davon haben wir reichlich. Wenn Sie Lust haben, in einem kreativen Team mitzuarbeiten, und die Bereitschaft mitbringen, Neues zu lernen und umzusetzen, dann rufen Sie uns an. Chance 92! Führendes Dienstleistungsunternehmen sucht vertrauenswürdige Mitarbeiter. Sie werden von uns in firmeneigenen Schulungszentren umgeschult. Schon während der Einarbeitungszeit erhalten Sie ein hohes leistungsbezogenes Einkommen. Bevorzugt werden Pädagogen und Ökonomen. Bis 100 € täglich. Seriöser Nebenverdienst von zu Hause aus.
So werben Drückerkolonnen mit Wurfpostkarten
Sie können sich und Ihren Freunden einen unschätzbaren Dienst erweisen…
… damit niemand später sagen muss: Hätte ich das nur früher gewusst! Ihre Freunde und Verwandten stochern vielleicht noch immer im Nebel der Anlagemöglichkeiten herum und wären froh, wenn ihnen jemand unparteiisch und klar Auskunft geben würde. Das ist es, was Sie vermitteln können, wenn Sie uns, die Deutsche Vermögensberatung AG, empfehlen. Mit Ihren Empfehlungen (bitte benutzen Sie die beigefügte Karte dazu) können Sie wertvolle Preise gewinnen – und die Gewissheit, eine gute Tat getan zu haben. Wir wünschen viel Erfolg! Ihre sechs Empfehlungen: Name, Straße, Telefon. (Werbekarte der Deutschen Vermögensberatung AG in Ostdeutschland)
Wer möchte sich nebenberuflich selbständig machen? Unser faulster nebenberuflicher Mitarbeiter verdient monatlich 6 300 €. Wer auf diese Anzeigen schreibt, wird zu einem Kandidatentreffen eingeladen. In einem noblen Rahmen wird den Frischlingen dann erklärt, worum es geht, wie man es macht, und vor allem, was dabei zu verdienen ist. Zu dem Schulungsseminar ist oft noch eine Gebühr fällig. Meist lernen die Freiwilligen vor allem eines: wie sie ihren Bekannten, Freunden und Verwandten möglichst viele Versicherungen aufschwatzen.