Hilfsmittel – Begutachtungsverfahren der Pflegeversicherung
Nicht zu vernachlässigen ist die Frage des Gutachters, ob der Versicherte noch Hilfsmittel benötigt. Zahlreiche Pflegeversicherungen warten regelmäßig das Gutachten ab, bevor sie über die Zuteilung von Hilfsmitteln entscheiden. Andersherum könnte man auch sagen: Ohne gutachterliche Empfehlung kann es schwierig werden, an Hilfsmittel heranzukommen. Dies gilt umso mehr, je teurer die Hilfsmittel werden. Ein WC-Stuhl dürfte meist nicht das Problem sein, da er ein nicht übermäßig teurer Massenartikel ist, der zudem nicht an spezielle Bedürfnisse angepasst werden muss. Bei aufwändigen Personenliftern oder Treppenliften sieht das schon ganz anders aus. Auf Grund der finanziellen Situation der einzelnen Systeme lässt sich generell fest- halten, dass Hilfsmittel bei anerkannter Pflegebedürftigkeit leichter zu erhalten sind als ohne. Der Grund hierfür ist, dass ohne Einstufung die Krankenkasse zuständig ist, während die Kosten bei Pflegebedürftigkeit von der Pflegeversicherung übernommen werden.
Die gutachterliche Freiheit
Vielfach ist zu hören, dass es die gutachterliche Freiheit gar nicht gebe, weil Richtlinien existierten, die absolut bindend seien. Das stimmt nicht. Schon vom Grundgedanken her kann ein Gutachter gar nicht in irgendwelche Vorschriften gezwängt werden, da ein Gutachten nur als solches anerkannt werden kann, wenn es ohne Beeinflussung von außen und ohne irgendwelche Zwänge erstellt wurde. Der Gutachter kann nur dann ein objektives Urteil abgeben, wenn er frei von bevormundenden Vorschriften und Vorgaben jedweder Art ist. Ein objektives Urteil ist aber genau das, was man von einem Gutachter erwartet und weshalb man überhaupt erst zum Werkzeug des Gutachtens greift.
In diesem Punkt unterscheidet sich das Pflegegutachten nicht von einem Gutachten für einen Strafprozess. Die Zeitkorridore und die darin enthaltenen Minutenwerte wurden eingeführt, um eine Richtschnur zu bilden, an der sich der Gutachter orientieren kann. Vor Einführung der Minutenwerte kam es vor, dass für gleiche Verrichtungen unter gleichen Bedingungen völlig unterschiedliche Minutenwerte angesetzt wurden. Um die daraus erwachsenden Ungerechtigkeiten zu beseitigen, wurden die Minutenwerte als Richtgröße eingeführt. Entgegen oftmals zu hörenden Behauptungen sind diese Werte nicht bindend. Es ist nur so, dass der Gutachter ein Abweichen von den Richtwerten besonders begründen muss. Gelingt es ihm, höhere Minutenwerte plausibel zu begründen, dann kann niemand an diesem Urteil rütteln.
Um die Möglichkeiten für höhere Minutenwerte zu katalogisieren und zu standardisieren, wurde das System der Erschwernisfaktoren entwickelt. Doch auch dieses ist nicht umfassend und abschließend, es stellt lediglich eine Sammlung beispielhafter Faktoren dar, durch die höhere Minutenwerte begründet sein können. Daneben existiert noch eine andere Möglichkeit für den Gutachter, von der üblichen Systematik abzuweichen.
Normalerweise verhält es sich so, dass eine strenge Unterscheidung getroffen wird zwischen Selbstständigkeit und Hilfebedarf. Egal, wie mühselig dem Versicherten die Eigenständigkeit fällt, entscheidend ist erst einmal, dass ein Hilfebedarf nicht notwendig ist, wenn dem Patienten die einzelnen Verrichtungen auf irgendeine Weise selbstständig gelingen. Es gibt aber durchaus eine Möglichkeit.
Die Zumutbarkeit
Der Gutachter hat die Möglichkeit, trotz erwiesener Selbstständigkeit Minutenwerte anzuerkennen. Wenn zum Beispiel ein an Parkinson erkrankter Versicherter die Ganzkörperwäsche allein zu Wege bringt, hierfür aber auf Grund seiner Erkrankung, sagen wir, zwei Stunden braucht, weil er stark verlangsamt ist, dann hat der Gutachter die Möglichkeit, dem Versicherten Minutenwerte innerhalb der Richtwerte zuzuerkennen. Begründet wird dies damit, dass es für den Versicherten unzumutbar ist, die extrem verlängerte Verrichtung ohne Fremdhilfe selbst durchzuführen. Sein ganzer Tag würde nur noch aus Waschen, Kleiden und WC-Gängen bestehen.
Der Gutachter hat also durchaus Möglichkeiten, vom starren Raster der Minutenwerte abzuweichen, wenn es sachliche Gründe hierfür gibt, mit denen er die Abweichung zu begründen versteht. Dazu muss aber auch immer ein realer Grund existieren.
Ende der Begutachtung
Nachdem alle Fragen beantwortet sind, wird sich der Gutachter abschließend erkundigen, ob der Versicherte seinerseits Fragen hat. Die Beratung des Versicherten gehört nämlich auch zu den Aufgaben des Gutachters. Dabei muss er aber in jedem Fall objektiv bleiben. Wenn sich ein Versicherter zum Beispiel über eine mutmaßliche Fehlbehandlung durch seinen Hausarzt beklagt, so darf der Gutachter dem Versicherten nicht Recht geben. Sätze wie „Da hat Ihr Arzt aber ganz schön Mist gemacht“, dürfen dem Gutachter nicht über die Lippen kommen. Problematisch ist auch, zu einem Arztwechsel zu raten. Gängig ist in dieser Situation der Rat, eine „zweite Meinung“ einzuholen, also einen weiteren Arzt zur Absicherung zu konsultieren.
Nachdem alles geklärt ist, wird sich der Gutachter verabschieden und als Letztes eine Einschätzung abgeben, wann mit dem Bescheid der Pflegeversicherung zu rechnen ist. Die zu erwartende Pflegestufe wird er in aller Regel nicht nennen.
Die Zeitkorridore
Grundlage zur Berechnung sind die so genannten Zeitkorridore. Hinter dieser Bezeichnung verbergen sich die Minutenwerte, die bei den verschiedenen Verrichtungen, die der Gutachter anhand seines Fragebogens abfragt, in Anrechnung gebracht werden. Deshalb werden sie in der Folge aufgelistet, damit Sie sich selbst ausrechnen können, welche Pflegestufe wahrscheinlich vergeben wird. Da praktisch jeder Betroffene über die angerechneten Minuten den Kopf schüttelt, sei hier der Vollständigkeit halber der Hintergrund erwähnt.
In allen so genannten zivilisierten Ländern entstehen Richtlinien und Empfehlungen auf die gleiche Art. Grundlage für die Festlegung der Minutenwerte war – wie immer in solchen Fragen – eine Expertenkommission.
Dass diese Richtwerte auf die gleiche Art entstehen, bedeutet nicht automatisch, dass dabei auch das Gleiche herauskommt. Bei der Pflegeversicherung lässt sich das mangels vergleichbarer Systeme nicht belegen. Nehmen wir deshalb ein Beispiel aus der Ernährungslehre. Die empfohlene Menge an zu verzehrenden Vitaminen schwankt von Land zu Land teilweise erheblich. Das allein wäre noch nicht schlimm, aber diese Unterschiede betreffen auch alle anderen Bereiche, zum Beispiel Angaben über den Energiegehalt einzelner Nahrungsmittel und damit auch die empfohlene Aufnahmemenge. Ursache hierfür sind regelmäßig nicht die voneinander abweichenden Organismen der verschiedenen Völker, sondern unterschiedlich besetzte Expertenkommissionen, die zu unterschiedlichen Kompromissen kommen. Das nämlich ist die eigentliche Crux: Zahlenwerte entstehen nicht auf Grund bestimmter Fakten, sondern durch Kompromisse zwischen verschiedenen Interessen(-Verbänden).
Im vorliegenden Fall standen sich Vertreter der Pflege unter anderem mit Vertretern der Politik und der Krankenkassen gegenüber. Experten, deren Interesse in der weitgehenden Schonung der Finanzen lag, trafen also auf Experten, die tatsächlich die Abläufe in der Pflege kannten. Heraus kam ein Kompromiss, der jeden Beteiligten im Glauben ließ, die Interessen seiner Klientel weitestgehend durchgesetzt zu haben.
Die folgenden Minutenwerte gelten für Vollübernahme. Sind nur teilweise Hilfen erforderlich, werden die angerechneten Werte natürlich niedriger ausfallen.
Ganzkörperwäsche: 20 bis 25 Minuten Teilwäsche Unterkörper: 12 bis 15 Minuten Teilwäsche Oberkörper: 8 bis 10 Minuten
Aber: Intimhygiene nach WC-Gang wird hier nicht eingerechnet.
Duschen: 15 bis 20 Minuten Baden: 20 bis 25 Minuten
Zahnpflege (gilt auch für Mundpflege bei Fehlen der Zähne): 5 Minuten Kämmen (Abzüge bei Halbglatze): 1 bis 3 Minuten Rasieren (geringere Werte für Damenbart): 5 bis 10 Minuten
Wasserlassen (Intimhygiene, Reinigen der Schüssel und des Umfeldes): 2 bis 3 Minuten
Stuhlgang (Intimhygiene, Reinigen der Schüssel und des Umfeldes): 3 bis 6 Minuten
Richten der Bekleidung (nach WC-Gang): 2 Minuten Wechsel der Windel nach Wasserlassen: 4 bis 6 Minuten
(Das in Altenheimen so beliebte Toilettentraining, also regelmäßiges Aufsuchen des WC ohne konkreten Anlass, wird mit weniger Minuten berücksichtigt, manchmal aber auch gar nicht, da das Einnässen als unverzichtbarer Bestandteil dieser Verrichtung fehlt.)
Wechsel der Windel nach Stuhlgang: 7 bis 10 Minuten Wechsel kleiner Vorlagen: 1 bis 2 Minuten
Wechsel/Entleeren des Urinbeutels/Urinflasche/Behältnis des WC-Stuhles: 2 bis 3 Minuten
Wechsel Stomabeutel: 3 bis 4 Minuten
Mundgerechte Zubereitung der Nahrung: 2 bis 3 Minuten je Hauptmahlzeit Aufnahme der Nahrung, Hauptmahlzeit inklusive Getränk: 15 bis 20 Minuten Hilfe beim Aufstehen/Zu-Bett-Gehen: 1 bis 2 Minuten Umlagern: 2 bis 3 Minuten Ankleiden gesamt: 8 bis 10 Minuten
Ankleiden nur Oberkörper oder Unterkörper: 5 bis 6 Minuten
Entkleiden gesamt: 4 bis 6 Minuten
Entkleiden Oberkörper oder Unterkörper: 2 bis 3 Minuten
Hilfe beim Gehen (entweder Begleitung beim Gehen oder Schieben eines Rollstuhles): 1 bis 2 Minuten
Transfer (= Umsetzen vom Bett zum Rollstuhl oder auch in die Badewanne helfen): 1 Minute
Treppen steigen (nur in Verbindung mit pflegerischer Notwendigkeit): 1 bis 2 Minuten Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung (nur in Verbindung mit Arzt- oder Therapiebesuch): freie Berechnung anhand Entfernung des Zieles. Selten mehr als 30 Minuten.
Nach diesen Werten orientieren sich die Gutachter. Nun wird auch klar, warum viele Menschen, die durchaus Hilfebedarf in dem einen oder anderen Bereich benötigen, zu deren großem Erstaunen keine Pflegeeinstufung erhalten. Die geforderten 46 Minuten sind bei diesen Minutenwerten recht schwer zu erreichen. Das ist aber noch nicht alles.
Die Tücken der Zeitkorridore
Werte innerhalb der Zeitkorridore müssen nicht begründet werden, Werte außerhalb dagegen schon. Begründen heißt nicht, dass die Feststellungen des Gutachters angezweifelt werden. Im Kern bedeutet dies nur zusätzliche Arbeit für den Gutachter. Er muss bei der Begutachtung nach Gründen für einen höheren Zeitwert fahnden, und er muss diese Begründung im Gutachten plausibel beschreiben. Dies geschieht recht selten, über die Gründe darf spekuliert werden. Fest steht jedenfalls, dass bei Vollübernahme aller gesetzlichen Verrichtungen die Minutenwerte der Zeitkorridore nicht zwingend zur höchsten Pflegestufe führen. Um eine Pflegestufe 3 zu erreichen, muss an mindestens einer Stelle der Zeitkorridor überschritten werden. Das muss der Gut-achter sehen.
Die gutachterliche Freiheit ist nicht angetastet. Das bedeutet: Niemand hindert den Gutachter daran, die Zeitkorridore zu verlassen. Es handelt sich um Richtwerte, an die man sich richten kann – oder eben auch nicht, wenn es denn sachgerecht begründet ist. Eigentlich ist der Gutachter ganz und gar frei in seiner Bewertung, da die Richtwerte keine verbindlichen Vorgaben darstellen. Sie wurden einst eingeführt, um die tatsächlich vorhandene Willkür bei der Begutachtung zu begrenzen. Vor Einführung der Richtwerte schwankten die zugestandenen Minuten sehr stark von Gutachter zu Gutachter, dies bei sachlich vergleichbaren Tatbeständen. Da nicht selten Gutachten von Gerichten überprüft werden, ergab sich eine Situation, in der die Richter fast immer die Entscheidungen der Gutachter mit Hinweis auf die quasi im luftleeren Raum befindlichen Minutenwerte wieder einkassierten.
Erschwernisfaktoren
Hier liegt die Chance für den Versicherten, sowohl bei der eigentlichen Begutachtung als auch beim späteren Widerspruch. Immer dann, wenn die Richtwerte für einzelne Verrichtungen überschritten werden sollen, muss dies einen guten Grund haben. Es wird allgemein angenommen, dass die Richtwerte für „normale“ Versicherte und Begleitumstände üblicherweise und ganz überwiegend bei den meisten Versicherten ausreichen. Wenn nun aber jemand mehr Zeit benötigt, dann muss prinzipbedingt ein besonderer Grund vorliegen, der die Zeitüberschreitung erforderlich macht. Diese Gründe nennt man Erschwernisfaktoren.
Die folgende Auflistung stellt nur die Zusammenstellung der häufigsten Faktoren dar. Der Kreativität und gutachterlichen Erkenntnis bleibt es überlassen, andere Erschwernisse zu erkennen und zu beschreiben. Die folgenden Faktoren schließen also andere Faktoren nicht aus und stellen somit nur eine Liste von Beispielen dar:
■ Köpergewicht über 80 Kilo
■ Kontrakturen und/oder Einstellungen großer Gelenke
■ Hochgradige Spastik
■ Hemiplegien und Paraplegien (= schlaffe Lähmung einer oder mehrerer Extremitäten)
■ Einschießende unkontrolliertere Bewegungen
■ Tremor (= starkes Zittern der Hände)
■ Fehlstellungen der Beine
■ Massiv eingeschränkte Belastbarkeit auf Grund schwerer Herzkrankheit
■ Abwehrverhalten (= geistig behinderte oder verwirrte Versicherte wehren sich gegen Pflege und/oder Ernährung)
■ Starke Schmerzen, die durch Medikamente nicht gedämpft werden können (zum Beispiel bei Krebs im Endstadium)
■ Zeitaufwändige Hilfsmittel (zum Beispiel komplizierte Liftersysteme oder Rollstühle mit Mehrfach-Gurtsystemen)
■ Beengte räumliche Verhältnisse (zum Beispiel Türen, durch die der Rollstuhl nicht passt, winzige Toiletten, in die Hilfspersonen nicht hineinkönnen, von Zimmer zu Zimmer Treppenstufen und vieles mehr)
Erwähnt werden muss auch, dass es erleichternde Faktoren gibt. Die Pflegeversicherung verspricht sich zum Beispiel von der Bereitstellung eines Hilfsmittels immer auch eine Verringerung des Hilfebedarfs. Bestes Beispiel ist der Rollator, mit dessen Hilfe gehbehinderte Versicherte innerhalb der Wohnung nicht mehr auf Begleitung beim Gehen angewiesen sein sollen. Tritt der erwartete Effekt nicht ein, macht das aber auch nichts. Weggenommen wird das Hilfsmittel nur, wenn es nicht benutzt wird.