Verbesserung des Wohnumfeldes
Leitsätze:
1. Ebenso wie der behindertengerechte Umbau einer Wohnung kann auch der Neubau eines behindertengerecht gestalteten Eigenheimes als Maßnahme zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes von der Pflegekasse bezuschusst werden.
2. Zur behindertengerechten Gestaltung eines Hauses zählt auch der Einbau von Fenstern mit Griffen in rollstuhlgerechter Höhe.
Sachverhalt:
Die Klägerin begehrt von der beklagten Pflegekasse über den bereits gezahlten Betrag von 5.000 € hinaus weitere 14.020 € als Zuschuss für verschiedene behindertengerechte Einrichtungen beim Neubau ihres Einfamilienhauses.
Die 1957 geborene Klägerin ist auf Grund erheblicher körperlicher Funktionseinschränkungen auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie erhält von der Beklagten seit dem 1. April 1995 Leistungen nach der Pflegestufe 3. Gemeinsam mit ihrem Ehemann lebt sie seit 1997 in einem neu erbauten, behindertengerecht errichteten, eingeschossigen Einfamilienhaus.
Im September 1997 beantragte die Klägerin einen Zuschuss nach § 40 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) für die beim Bau des Hauses behindertengerecht erstellten Einrichtungen. Dabei handelte es sich um eine ihrer Behinderung angepasste Dusche, eine tiefer gesetzte Badewanne, eine Deckenverstärkung des Bades einschließlich des festen Einbaus des bereits in ihrer bisherigen Wohnung benutzten Toilette in Sonderhöhe, Griffhalterungen bei Dusche und Toilette, Fenstergriffe in Sonderhöhe, Zimmertüren in Sonderbreite, Terrassentüren ohne Schwelle sowie elektrische Rollläden. Die Mehrkosten beliefen sich auf insgesamt 19.020 €.
Mit der Klage hat die Klägerin geltend gemacht, die behindertengerechte Gestaltung dem abgrenzbaren Teilbereichen innerhalb einer Wohnung oder eines Hauses sei keine «einheitliche „Maßnahme“ im Sinne des § 40 Abs. 4 Satz 3 SGB XI, sodass für jede ein Maßnahme ein Zuschuss von bis zu 5.000 € gezahlt werden könne. Die Möglichkeit der gleichzeitigen Gewährung mehrerer Zuschüsse ergebe sich auch aus dem Wortlaut des Gesetzes, wonach die Pflegekassen finanzielle „Zuschüsse“ (Plural) für Maßnahmen zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes des Pflegebedürftigen gewähren könnten. Der Neubau ihres Hauses umfasse fünf solcher Einzelmaßnahmen
11. Anpassung der Türen; 2. Ausstattung der Fenster; 3. behindertengerechte Toilette; behindertengerechte Dusche; 5. behindertengerechte Badewanne). Bezuschussungsfähig sei dabei auch der Einbau von Fenstern mit Griffen in rollstuhlgerechter Sonderhohe und von elektrischen Rollläden, weil sie dadurch von der Hilfe der Pflegepersonen unabhängig und so in ihrer Lebensführung selbstständiger werde. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 21. Januar 1999). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom
10. August 2000): Zwar seien alle neun Einzelmaßnahmen jeweils notwendig im Sinne § 40 Abs. 4 Satz 1 SGB XI und damit grundsätzlich zuschussfähig. Allerdings seien alle Kinzelmaßnahmen als „eine Maßnahme“ (Gesamtmaßnahme) im Rechtssinne zu werten, sodass ein höherer Zuschuss als der bereits gewährte Betrag von 5.000 € nach § 40 Abs. 4 Satz 3 SGB XI ausgeschlossen sei. Die Gewährung eines zweiten Zu-schusses komme erst in Betracht, wenn sich die Pflegesituation im Laufe der Zeit objektiv ändere und dadurch weitere Schritte zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes erforderlich würden, die bei der Durchführung der ersten Umbaumaßnahme noch nicht notwendig gewesen seien.
Die Urteile im Einzelnen
vom 5. November 1997 und 24. November 1997 zu ändern, den Widerspruchsbescheid vom 10. Juli 1998 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, weitere Zuschüsse in Höhe von insgesamt 14.020 € zu gewähren, hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, über die Gewährung weiterer Zuschüsse unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie verteidigt das angefochtene Urteil als zutreffend. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach den §§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidung:
Die Revision ist nicht begründet. Die Vorinstanzen haben zu Recht entschieden, dass die Klägerin keine weiteren Zuschüsse für den behindertengerechten Neubau ihres Wohnhauses verlangen kann. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig.
Als Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Zahlung eines Zuschusses wegen der Mehrkosten für die behindertengerechte Ausstattung eines neu errichteten Wohnhauses kommt allein § 40 Abs. 4 SGB XI in Betracht. Nach dieser Vorschrift können die Pflegekassen subsidiär finanzielle Zuschüsse für Maßnahmen zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes des (versicherten) Pflegebedürftigen gewähren, beispielsweise für technische Hilfen im Haushalt, wenn dadurch im Einzelfall die häusliche Pflege ermöglicht oder erheblich erleichtert oder eine möglichst selbstständige Lebensführung des Pflegebedürftigen wiederhergestellt wird (Satz 1). Die Zuschüsse dürfen dabei einen Betrag in Höhe von 5.000 € je Maßnahme nicht übersteigen (Satz 3).
Die Voraussetzungen des Zuschussanspruchs sind im vorliegenden Fall dem Grunde nach gegeben. Die Regelung des § 40 Abs. 4 Satz 1 SGB XI beschränkt sich nicht darauf, dass nur der behindertengerechte Umbau der von dem Pflegebedürftigen bereits bewohnten, normal ausgestatteten Wohnung bezuschusst werden kann; denn der Sinn und Zweck der Vorschrift liegt nicht allein in der finanziellen Hilfe zum Verbleib in der vorhandenen Wohnung bzw. in der gewohnten Umgebung. Die Vorschrift ist vielmehr dahin auszulegen, dass es sich um eine Hilfe der sozialen Pflegeversicherung zur Vermeidung von Pflege in einem Pflegeheim handelt. Die Regelung ist Ausdruck des allgemeinen Vorrangs der häuslichen Pflege vor der stationären Pflege (§ 3 SGB XI) und des Grundsatzes, dass die Leistungen der Pflegeversicherung dem Pflegebedürftigen helfen sollen, trotz des Pflegebedarfs ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben führen zu können (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB XI), und dass die Pflegekassen bei der Leistungsgewährung den Wünschen des Berechtigten im Rahmen der Angemessenheit und Wirtschaftlichkeit nach Möglichkeit entsprechen sollen (§ 2 Abs. 2 und 3 SGB XI sowie § 33 Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil – SGB I). Der Begriff des „individuellen Wohnumfeldes“ des Pflegebedürftigen ist daher nicht auf die vorhandene Wohnung (Mietwohnung, Eigentumswohnung oder Eigenheim) begrenzt, sondern umfasst – in Abgrenzung zum dauerhaften Aufenthalt in einer stationären Einrichtung – jedes Wohnen in einem privaten häuslichen Bereich. Nichts anderes besagen die Gesetzesmaterialien auch wenn dort an einer Stelle vom „Verbleib des Pflegebedürftigen in seiner häuslichen Umgebung“ gesprochen wird. Gemeint ist die Erhaltung einer häuslichen Umgebung entweder durch behindertengerechte Ausstattung der vorhandenen Wohnung (so der Regelfall in der Praxis) oder durch Umzug in eine so ausgestattete andere Wohnung. Deshalb kommt ein Zuschuss auch beim behindertengerechten Neubau eines Hauses oder einer Eigentumswohnung, der einen Umzug und damit das Verlassen der bisherigen häuslichen Umgebung voraussetzt, in Betracht (so auch Gemeinsames Rundschreiben der Spitzenverbände der Krankenkassen zu den leistungsrechtlichen Vorschriften des Pflege-Versicherungsgesetzes – Pflege VGR – vom 28. Oktober 1996 idF vom 9. Juli 1999, § 40 SGB XI Nrn 8 und 9).
An dieser Stelle braucht nicht auf die Frage eingegangen zu werden, ob ein Zuschuss auch dann gewährt werden kann, wenn die vorhandene Wohnung des Pflegebedürftigen bereits behindertengerecht ausgestattet ist und seinem Bedürfnis nach sachgerechter Pflege und möglichst selbstständiger Lebensführung genügt, und der Pflegebedürftige nun in eine andere Wohnung umzieht, die er ebenso behindertengerecht ausstatten lässt (zum Beispiel Umzug aus beruflichen Gründen, Umzug in ein geerbtes Haus oder Umzug in eine bessere Wohnlage), weil nach dem Gesamtzusammenhang der nicht angefochtenen und daher für den Senat bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des LSG ein solcher Sachverhalt hier nicht gegeben ist. Die alte Wohnung der Klägerin wies weder eine vergleichbare behindertengerechte Ausstattung wie der Neubau auf, noch hatte die Klägerin in der Vergangenheit einen Zuschuss erhalten. Dem Zuschussanspruch steht auch nicht der Grundsatz der Subsidiarität der Eintrittspflicht der sozialen Pflegeversicherung entgegen (§ 40 Abs. 1 Satz 1 SGB XI). Nach den Feststellungen des LSG ist nicht zu erkennen, dass in Bezug auf die Förderung der behindertengerechten Gestaltung des Neubaus ein anderer Leistungsträger vorrangig leistungspflichtig ist.
Die Beklagte hat die Bezuschussung der Mehrkosten für den Einbau von Fenstern mit Griffen in rollstuhlgerechter Höhe zu Unrecht abgelehnt. Die Maßnahme ist im Rahmen des § 40 Abs. 4 SGB XI berücksichtigungsfähig (so auch PflegeVGR Nr. 14.3.1), weil sie es der Klägerin erlaubt, die Fenster nach ihren Bedürfnissen zu öffnen und zu schließen, ohne auf die Hilfe einer – auch bei einer grundsätzlichen Pflege „rund um die Uhr“ (§15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI) nicht immer und überall sofort zur Verfügung stehenden – Pflegeperson angewiesen zu sein. Die vollständige oder weitgehende Unabhängigkeit von fremder Hilfe bei einer der elementaren Lebensführung in der eigenen Wohnung dienenden Tätigkeit ist gerade das Ziel der Bezuschussung einer Maßnahme zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes, soweit es – wie hier – um die „Wiederherstellung einer möglichst selbstständigen Lebensführung“ geht (vgl. bereits Urteil des Senats vom 3. November 1999 – B 3 P 3/99 R – SozR 3- 3300 § 40 Nr. 1). Der Anspruch scheitert darüber hinaus auch nicht daran, dass das Öffnen und Schließen von Fenstern nicht zu den in § 14 Abs. 4 SGB XI genannten Verrichtungen der Grundpflege (Nrn. 1 bis 3) bzw. der hauswirtschaftlichen Versorgung (Nr. 4) gehört. Maßnahmen zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes dienen nach der ausdrücklichen Festlegung in § 40 Abs. 4 Satz 1 SGB XI sowohl der Ermöglichung oder erheblichen Erleichterung häuslicher Pflege als auch der Wiederherstellung einer möglichst selbstständigen Lebensführung des Pflegebedürftigen, beschränken sich also nicht auf die Ermöglichung oder Erleichterung nur von verrichtungsbezogenen Hilfeleistungen im Sinne des § 14 Abs. 3 und 4 SGB XI bzw. auf die Herbeiführung der Entbehrlichkeit solcher Hilfeleistungen.
Die Mehrkosten von 6.820 € für elf elektrisch betriebene Rollläden sind dagegen nicht bezuschussungsfähig, weil die Ausstattung der Fenster mit Rollläden zur Ermöglichung der selbstständigen Lebensführung der Klägerin nicht erforderlich ist. Dabei kommt es nicht in erster Linie auf die individuellen Bedürfnisse, Vorstellungen und Lebensgewohnheiten des einzelnen Pflegebedürftigen an. Maßgebend ist vielmehr, wie vom Senat bereits entschieden (Bundessozialgericht SozR 3-3300 § 40 Nr. 1), ein üblicher und durchschnittlicher Wohnungsstandard, wie es sich aus dem Wirtschaftlichkeitsgebot (§§ 4 Abs. 3, 29 Abs. 1 SGB XI) ergibt. Danach ist die Ausstattung der Fenster eines normalen Wohnhauses mit Rollläden, Jalousien oder Fensterläden nicht unverzichtbar, um einen ausreichenden Einbruchsschutz zu gewährleisten. Derartige Vorrichtungen zählen – auch bei Fenstern im Parterre – nicht zur Standardausrüstung von Häusern bzw. Wohnungen, sondern werden zur Sicherung des Eigentums je nach dem unterschiedlich ausgeprägten Schutzbedürfnis der Bewohner angebracht. Nichts anderes gilt für die Anbringung von Rollläden als Schutz gegen intensive Sonneneinstrahlung. Es handelt sich um eine Maßnahme, die der Herstellung eines gehobenen Wohnkomforts dient, also über den allgemeinen Wohnstandard hinausgeht. Im Einzelfall mag ein Zuschuss in Betracht kommen, wenn die Anbringung eines Rollladens notwendig ist, weil ein Pflegebedürftiger zur Linderung seiner Beschwerden ständig auf einen kühlen Raum angewiesen ist. Darum geht es im vorliegenden Fall aber nicht. Unabhängig davon, dass ein solcher Zweck von der Klägerin nicht geltend gemacht worden ist, scheidet ein Zuschuss hier schon deshalb aus, weil die Klägerin ein Einfamilienhaus bewohnt und deshalb jederzeit ein Ausweichen in Räume möglich ist, die der Sonneneinstrahlung nicht ausgesetzt sind.
Selbst bei Ansatz eines weiteren Betrags für behindertengerechte Fenstergriffe als Mehrkosten für eine Maßnahme zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes konnte die Klage keinen Erfolg haben, weil die Beklagte den dem Grunde nach bestehenden Zuschussanspruch der Klägerin durch die Zahlung des gesetzlichen Höchstbetrags von 5.000 € bereits erfüllt hat. Nach § 40 Abs. 4 Satz 3 SGB XI dürfen die Zuschüsse einen Betrag von 5.000 € „je Maßnahme“ nicht übersteigen. Alle Einzelmaßnahmen bei der Erstellung des Neubaus sind rechtlich als „eine Maßnahme“ (Gesamtmaßnahme) im Sinne des § 40 Abs. 4 SGB XI anzusehen, weil sie auf Grund des objektiven Pflegebedarfs der Klägerin zum Zeitpunkt der Errichtung des Hauses erforderlich waren. In derartigen Fällen ist eine Aufspaltung in rechtlich getrennt zu betrachtende Einzelmaßnahmen nicht zulässig, wie der Senat bereits entschieden hat (Urteil vom 3. November 1999 – B 3 P 6/99 R – SozR 3-3300 § 40 Nr. 2). Das LSG hat es zu Recht abgelehnt, diese am Fall der behindertengerechten Umgestaltung einer vom Pflegebedürftigen bereits bewohnten, normal ausgestatteten Wohnung entwickelte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Begriff der „Maßnahme“ in § 40 Abs.
4 SGB XI bei der behindertengerechten Gestaltung eines Neubaus zu modifizieren. Es ist kein Grund erkennbar, hier andere Kriterien anzulegen; insbesondere ist es nicht Aufgabe der Pflegeversicherung, Neubauten besonders zu fördern.
Auch der Hinweis der Klägerin auf die sprachliche Fassung des § 40 Abs. 4 SGB XI, in dem von „finanziellen Zuschüssen“ und „Zuschüssen je Maßnahme“ die Rede ist, gibt keine Veranlassung zu einer Änderung der Rechtsprechung des Senats. In dem genannten Urteil hat der Senat bereits die sprachliche Fassung des Gesetzes berücksichtigt und im Einzelnen ausgeführt, unter welchen Umständen ein zweiter Zuschuss gewährt werden kann, nämlich grundsätzlich erst dann, wenn sich die Pflegesituation objektiv ändert (zum Beispiel durch das Hinzutreten einer weiteren Behinderung oder eine altersbedingte Ausweitung des Pflegebedarfs eines Behinderten).
Da ein weiterer Zuschuss nicht in Betracht kam, brauchte nicht entschieden zu werden, welchen Eigenanteil die Klägerin an den entstandenen Mehrkosten zu tragen gehabt hätte (§ 40 Abs. 4 Satz 2 SGB XI). (Bundessozialgericht, 26.4.2001, B 3 P 24/00 R)