Der Gesetzgeber war das erste Mal gefordert, als Ende des 19. Jahrhunderts im deutschen Reichstag von wahren Raubzügen die Rede war, die die Versicherungs-Aktiengesellschaften vor allem mit ihren damals neu entwickelten Kapitalversicherungen veranstalteten. Dabei hat der Gesetzgeber zwar die Gefahr schwerster Schädigung des Volkswohls erkannt, aber nicht die Ursache für diese Gefahr und für die Raubzüge, dass nämlich in einer Kapitalversicherung Dinge miteinander vermengt waren, die getrennt werden sollten, und dass dadurch die Möglichkeit des Schwindels, des Betruges und der Veruntreuung von Versichertengeld gegeben waren.
Statt Versicherung, Sparen und Dienstleistungen von der Prämie bis hin in die Bilanzen zu trennen, hat der Gesetzgeber die Vertrags- und Vermögensverhältnisse der Kapitalversicherung ungeregelt gelassen und einfach eine staatliche Aufsicht über alle Missstände gestülpt, die auftretende Unrechtmäßigkeiten verhindern oder beseitigen sollte. Allerdings sah der Gesetzgeber damals schon, dass die Schattenseiten des Systems mit aller Schärfe in den Vordergrund treten würden, wenn die Aufsichtsbehörde ihre weitgehenden Machtbefugnisse nicht anwenden und nur den täuschenden Schein einer staatlichen Aufsicht erwecken würde. Das zweite Mal war der Gesetzgeber gefordert, als die Kapitalversicherung im Versicherungsvertragsgesetz (WG) von 1908 geregelt werden musste. Da ist ihm die wohl primitivste Vorschrift des deutschen Zivilrechts eingefallen, nämlich in § 1 WG:
Der Versicherte hat die Prämie zu zahlen, das Versicherungsunternehmen die Versicherungssumme bei Tod oder beim Vertragsablauf. Keine Regelung zu den zwangsläufig entstehenden Überschüssen und Erträgen aus Versichertengeld, keine Regelung über Kosten, Abschreibungen und Bewertungen von Kapitalanlagen (wie z. B. im heutigen Gesetz über Kapitalanlagegesellschaften, KAGG). Dafür wurde das Instrument der – oben ausführlich dargestellten – Überschussbeteiligung eingeführt, die den Gesellschaften eine beliebige Verfügbarkeit über Versichertengeld verschafft hat.
Man muss sich fragen, ob der Gesetzgeber entweder so ahnungslos oder so sehr von der Branche beeinflusst war, dass er diese schlimme Vorschrift geschaffen, ihre Mängel nicht erkannt und sie über 90 Jahre lang nicht reformiert hat.
Immerhin werden nach dieser Gesetzesbestimmung heute etwa 550 Millionen Versicherungsverträge und allein 55 Millionen Kapital-Lebensversicherungen abgewickelt und Kapitalanlagen im Realwert von etwa 1000 Milliarden Euro verwaltet, davon im Bereich der Lebensversicherung allein um die 600 Milliarden Euro. Der Gesetzgeber hat noch im Jahre 1994 in einer Bundestags-Drucksache die bekannten Mängel bei der Beteiligung der Versicherten an den Beitragsüberschüssen beklagt. Die
Bundesregierung hat 1998 – endlich – die Intransparenz in diesem Bereich erkannt und Abhilfe versprochen. Aber noch geht der legale Betrug weiter! Für die Gesetzgebung im Versicherungsbereich ist dessen Oberaufseher, der Bundesfinanzminister, zuständig. Dessen Interesse an dem Sammelbecken von über 500 Milliarden Euro Lebensversicherten-Kapital ist bereits in den einleitenden Artikeln beschrieben worden.
Die Abhängigkeit der Regierung von der Branche kann man auch zwischen den Zeilen einer Pressemitteilung des Verbandes der Lebensversicherungsunternehmen lesen: Die Lebensversicherer finanzieren in großem Umfang Wirtschaft und öffentliche Hand. Ihre Kapitalanlagen, die zum größten Teil in diese Bereiche fließen, machen derzeit rund 700 Milliarden DM aus. Jedermann weiß, dass Wirtschaft und Staat Kapital zu finanzierbaren Konditionen nötiger denn je brauchen. Ein unmissverständlicher Wink mit dem Zaunpfahl Kapitalsammelbecken für den Bundesfinanzminister – im Klartext: Wir beschaffen langfristig billiges Geld von ahnungslosen Bürgern, und du, lieber Finanzminister, kannst dich zu günstigen Konditionen daraus bedienen (… wenn du brav bist und uns unsere Freiheiten und Steuerprivilegien lässt)!
Ein Beispiel: Die Bundesrepublik legte in einer Niedrigzinsphase eine 30-jährige (!) Anleihe mit einem Zinssatz von 5,6 Prozent auf. Diese wurde auch von Lebensversicherungsunternehmen gezeichnet. Es bedarf keiner besonderen Wertpapierkenntnisse, um zu wissen, dass eine Anlage über einen so langen Zeitraum praktisch auf der Sohle des Zinstales verantwortungslos gegenüber den Versicherten ist. Ein privater Vermögensverwalter könnte für solche Handlungen schaden-ersatzpflichtig gemacht werden. Für den Kreditnehmer, die Bundesregierung, dagegen kein schlechtes Geschäft. Die erwähnte Anlage notierte später an der Börse nur noch mit zwei Drittel ihres Nominalwertes. Kein Wunder, dass Bundesfinanzminister nur ungern an eine Reform der gesetzlichen Regelungen zu Kapitalversicherungen herangehen und die Vertrags- und Vermögensverhältnisse in diesem Bereich nicht wie bei den Kapitalanlagegesellschaften klar und deutlich regeln. Die Kreditaufnahme würde sich mit Sicherheit verteuern.