Begutachtungsverfahren der Pflegeversicherung
Diese Frage hilft klären, ob die Versorgung des hilfebedürftigen Versicherten gewährleistet ist oder nicht. Wohnen noch andere Personen im gleichen Haushalt, so kann man üblicherweise davon ausgehen, dass ein Notfall oder eine Hilfesituation nicht unbemerkt bleibt. Lebt der Versicherte hingegen allein und benötigt er auch in der Nacht Hilfe (wovon ab Pflegestufe 2 pauschal auszugehen ist), dann wird der Gutachter die Frage klären, wie dieser nächtliche Hilfebedarf sichergestellt ist.
Ganz zum Schluss gibt die Information über das Wohnumfeld in bestimmten Situationen auch Aufschluss über die Frage, ob es grundsätzlich verantwortbar ist, den Versicherten überhaupt noch in seiner Wohnung zu belassen. Wenn die geistige Verwirrtheit eines Menschen zum Beispiel Formen angenommen hat, die ihn mit seinem Gasherd oder Gasofen merkwürdige und gefährliche Dinge anstellen lassen, dann ist höchstwahrscheinlich die Zeit für einen Umzug gekommen. So etwas wird meist von einem Pflegedienst an die Versicherung gemeldet, der Sachbearbeiter schaut kurz ins Gutachten, findet dort die Angaben zum Umfeld bestätigt und wird aktiv. In welcher Weise er aktiv wird, liegt dann wiederum in seiner eigenen Verantwortung.
Bei einer Begutachtung im Altenheim entfällt dieser Fragepunkt. Altenheime müssen bestimmte gesetzliche Forderungen an die baulichen Gegebenheiten erfüllen, zum Beispiel stufenlose Zugänge zu allen Bereichen. Insofern wird einfach vorausgesetzt, dass es in dieser Hinsicht keine Probleme gibt.
Vorgeschichte und Befunde
Da weder die Kranken- bzw. Pflegekasse noch der Gutachter die vollständige Krankengeschichte oder die genauen Gründe für eine mögliche Pflegebedürftigkeit kennen, werden diese vor Ort erfragt. Dies geschieht nicht aus Bequemlichkeit, sondern um die Begutachtung vollständig zu machen. Zum einen gilt der Grundsatz, dass der Tag der Begutachtung gilt. Die menschliche Gesundheit ist schwer vorauszusagen, Heilungen wie Verschlechterungen finden gelegentlich innerhalb weniger Tage statt. Der Gutachter soll sich ein vollständiges Bild vom Versicherten machen, sowie er sich an diesem einen Tag darstellt.
Außerdem vermag ein Attest oder ein Arztbrief vom Krankenhaus den Menschen nie in seiner Gesamtheit abzubilden. Das soll erst das Gutachten leisten. Auch wenn entsprechende schriftliche Unterlagen vorliegen, soll der Gutachter doch die gesamte Krankengeschichte noch einmal mit dem Versicherten durchsprechen. Denn auf die Krankheiten selbst kommt es nur indirekt an. Wichtig ist und bleibt, welche Auswirkungen diese Krankheiten für den Versicherten im Alltag mit sich bringen. Und im Alltag findet die Begutachtung statt, im Alltag berichtet der Versicherte von seinen Krankheiten und im Alltag vermag der Gutachter schon aus dem Vortrag des Versicherten zu erkennen, welche Details als belastend empfunden werden. Nicht zuletzt bedeutet auch eine depressive Verstimmung unter Umständen einen zusätzlichen Hilfebedarf. Aus der Art und Weise, wie der Versicherte spricht und wie er sich gibt, zieht der Gut-achter zusätzliche Schlüsse.
Grundsätzlich greift der Gutachter auf die folgenden vier Informationsquellen zurück.
1. Die MDK-Akte
Falls der Versicherte bereits einmal in seinem Leben mit dem MDK zu tun hatte, gibt es eine Akte von ihm. Dieser Kontakt kann auch ohne sein Wissen zu Stande gekommen sein. Die Aufgaben des MDK sind sehr vielfältig, daher kann die Krankenkasse an anderer Stelle zu einem anderen Problem bereits den Rat des MDK eingeholt haben, ohne dies dem Versicherten mitzuteilen. Etwa wenn es bei einer Krankenhausbehandlung darum ging, eine alternative Behandlungsmethode zu finanzieren, oder auch schlicht dann, wenn der Aufenthalt länger als üblich sein sollte und dies vom Krankenhaus bei der Versicherung beantragt wurde. Diese gab dann den Fall an den MDK weiter, der, ohne Besuch beim Versicherten, anhand der Informationen aus dem Krankenhaus die länger dauernde Behandlung befürwortete oder eben nicht. Wie auch immer, wenn der MDK schon im Vorfeld etwas vom Versicherten weiß, dann wird der Gutachter darüber Bescheid wissen. Alle Untersuchungen und sonstigen Informationen des jeweiligen Versicherten sind beim MDK in einer zentralen Akte zusammengefasst. Von daher hat der Gutachter womöglich bereits erste Informationen über den Versicherten.
2. Ärztliche Informationen
Beste Informationsquellen sind normalerweise Schriftstücke, die der Information der Ärzte untereinander dienen. An erster Stelle sind dies Arztbriefe, die das Krankenhaus nach erfolgter Behandlung an den Hausarzt schickt. Auch Informationen der verschiedenen Fachärzte an den Hausarzt werden gerne herangezogen. Nicht so begehrt sind Atteste, die der Hausarzt, manchmal auf Rezeptblöcken oder anderen, nicht dafür vorgesehenen Medien, extra für den Hausbesuch dem Versicherten mitgibt. Dies dient all zu oft ziemlich offensichtlich der Erreichung einer möglichst hohen Einstufung, stellt also einen Akt der „Kundenbindung“ zwischen dem Arzt und seinem Patienten dar. Auch wegen der gelegentlich zweifelhaften Beweggründe solcher Atteste ist die Begutachtung durch den Abgesandten des MDK vor Ort erforderlich.
Es tut sich aber noch ein weiteres Problem auf: In Attesten und Arztbriefen sind oftmals eine Vielzahl von Diagnosen aufgelistet, die untereinander nicht näher bewertet werden. Dies erledigt notgedrungen der Gutachter. Er filtert diejenigen Diagnosen heraus, die pflegebegründend sind. Für den Begutachtungszweck unnötige Diagnosen sind beispielhaft: eine Blinddarmentfernung vor 20 Jahren; Knochenbrüche, die seit längerem verheilt sind; organische Leiden, deren akute Auswirkungen der Vergangenheit angehören, etwa Magen- und Gallenleiden. Auch das Entfernen einer Niere zählt zu den wenig wichtigen Ereignissen, wenn die verbliebene zweite Niere ihre Aufgabe ohne Probleme meistert.
Pflegebegründend sind nur alle Krankheiten, die sich dauerhaft auf den Alltag des Versicherten auswirken. Ein Beispiel soll den Unterschied zwischen unwichtig und wichtig verdeutlichen.
Beispiel: Erstaunlich häufig wird in unserer zivilisierten Gesellschaft durch Verschleiß oder Bruch der operative Einbau eines künstlichen Hüftgelenkes (von den Ärzten kurz TEP = Totalendoprothese genannt) notwendig. Verheilt alles ohne Komplikationen, ist der Versicherte weitgehend wieder in seinem Leistungsniveau hergestellt. In diesem Fall spielt die Operation für den Hilfebedarf keine Rolle, da das künstliche Gelenk in der Funktion einem gesunden, eigenen Gelenk kaum nachsteht.
Je nach Belastung beginnen jedoch nach zehn bis 20 Jahren die Probleme, wenn die TEP sich langsam lockert. Schmerzen treten auf, die nach einiger Zeit bestimmte Bewegungen zur Qual machen. Pflegerelevant, also für die Begutachtung wichtig wird es, wenn sich der Versicherte auf Grund anhaltender Schmerzen nicht mehr bücken kann.
Das Beispiel zeigt auch eindrücklich, dass die Diagnose als solche noch nichts aussagt über die Hilfebedürftigkeit. Erst die Art und Stärke der Schmerzen verursacht von Mensch zu Mensch ganz unterschiedliche Einschränkungen. Und genau auf die kommt es an.
Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, verfügen die Kassen nicht über die vollständigen Informationen. Deshalb ist der Versicherte immer aufgerufen, sich die entsprechenden Informationen von seinem Hausarzt und/oder den Krankenhäusern zu beschaffen. Technisch gesehen darf man ihm seine Diagnosen nicht vorenthalten. Manche Ärzte geben die entsprechenden Dokumente dennoch nicht gerne heraus. Andere wieder verweigern generell die Herausgabe von Unterlagen. Ohne die jeweiligen Beweggründe werten zu wollen, bleibt dem Gutachter dann nichts anderes übrig, als sich die Dokumente direkt vom Hausarzt zu besorgen. In seltenen Fällen kommt es allerdings vor, dass der Hausarzt auch dem Gutachter die Herausgabe verweigert, off aus einem überkommenen Hierarchie-Denken heraus, weil der Gutachter beispielweise kein Arzt ist.
Achtung: Dabei ist zu bedenken, dass die Verweigerung von Informationen, ob durch den Arzt oder den Versicherten selbst, die Begutachtung als Ganzes gefährdet. Ohne Informationen von außen kann der Gutachter kein vollständiges Bild vom Versicherten zeichnen. Im schlimmsten Fall kann das bedeuten, dass eine Aussage zur Pflegebedürftigkeit und damit zur Pflegestufe nicht gemacht werden kann. Also leistet die Versicherung auch nicht.
3. Die Pflegedokumentation
Immer dort, wo professionelle Pflegekräfte im Einsatz sind, wird eine Akte geführt, die so genannte Pflegedokumentation. Das ist zwingende Vorschrift. Außer im Altenheim trifft man diese Form der Informationssammlung auch bei den Pflegediensten an, die pflegebedürftige Menschen in ihrer häuslichen Umgebung pflegen.
Im Grunde verhält es sich so, dass eine Firma, die Fachkräfte, meistens Altenpfleger oder Krankenschwestern, beschäftigt, zum Führen einer Dokumentation verpflichtet ist, und zwar gleichermaßen per Gesetz und durch die gängige Rechtsprechung. Bahnbrechend war hier das „Braunschweiger Urteil“, welches im Kern besagt: Was nicht (in der Pflegedokumentation) dokumentiert ist, ist auch nicht passiert. Dies gilt zwar in erster Linie für die Abrechnung von Leistungen, wenn ein Pflegedienst beispielsweise tägliches Duschen in Rechnung stellt, dieses in der Dokumentation aber nur einmal wöchentlich vermerkt ist. In zweiter Linie dient die Dokumentation auch als Beweismittel in dem Fall, dass ein Kunde/Patient/Bewohner zu Schaden gekommen ist und anhand der Dokumentation geprüft werden muss, ob dem ein Versäumnis oder eine falsche Handlung durch Fachkräfte zu Grunde liegt.
Aber auch für den Gutachter stellt die Dokumentation eine wichtige Informationsquelle dar. Erklären beispielsweise Mitarbeiter des Pflegedienstes, dass ein Versicherter bei der Nahrungsaufnahme vollständig auf Fremdhilfe angewiesen ist, und gleichzeitig berichtet die Niederschrift in der Dokumentation lediglich von gelegentlichen und dann auch nur beim Trinken notwendigen Hilfen, dann hat nicht nur der Pflegedienst ein Problem. Der Gutachter wird dann prüfen, welche Variante stimmig ist. Versuchen die Pflegekräfte, ihm einen Bären aufzubinden, oder ist die Dokumentation nur schlampig geführt?
In jedem Fall muss die Dokumentation folgende Informationen enthalten:
■ Diagnosen/Krankheiten;
■ verordnete Medikamente;
■ Pflegeplanung (hieraus gehen Restfähigkeiten und Einschränkungen des beschriebenen Menschen hervor);
■ eine Form der Durchführungskontrolle (hier wird aufgelistet, welche Verrichtungen im Einzelnen durchgeführt wurden, und bei tatsächlicher Durchführung muss dies jedes Mal von einer Fachkraft abgezeichnet werden);
■ Berichtsblatt (hier stehen alle Besonderheiten, die im täglichen Ablauf aufgetreten sind).
Unter Umständen ergänzen weitere Informationen die Sammlung, etwa bei Personen mit fehlendem Durstgefühl ein Trinkplan, in dem die Menge und Häufigkeit der zugeführten Flüssigkeit dokumentiert wird. Insgesamt ist die Dokumentation eine wahre Fundgrube für den Gutachter, und zwar in jeder Hinsicht.
Aus verschiedenen Gründen kommt es gelegentlich vor, dass Pflegedienste die Dokumentationsmappe nicht beim Versicherten belassen, sondern in der Dienststelle verwahren (im Altenheim kommt das Prinzip bedingt nicht vor). In so einem Fall wird der Gutachter eine Kopie anfordern, die dann meist auch wirklich per Post übersandt wird. Soweit bedeutet dies nur eine Verzögerung, je nach Zeitspanne zwischen Anforderung und Übersendung unterschiedlich ausgeprägt. Sollte sich der Pflegedienst außer Stande sehen, eine Kopie zu übersenden, kann dies zu Lasten des Versicherten gehen, nämlich dann, wenn hierdurch Informationen verloren gehen, die für eine höhere Pflegestufe sprechen.
4. Die Krankengeschichte des zu Pflegenden
Die Aufnahme der Krankengeschichte erfolgt bei der besten Informationsquelle von allen, dem Betroffenen selbst! Der Versicherte wird nach seinen Krankheiten und Einschränkungen gefragt. Aus der Art und Weise, wie der Versicherte die Informationen gibt und welche Einschränkungen er dabei in der Vordergrund stellt, gewinnt der Gutachter wichtige Informationen. Hat er zum Beispiel zuerst das ärztliche Attest mit einer ganzen Latte von Krankheiten gelesen und der Versicherte anschließend beinahe ausschließlich von der Mühe gesprochen, seine zitternden Hände unter Kontrolle zu halten, wird der Gutachter daraufhin die für seine Aufgabe unwichtigen Krankheiten ad acta legen können, und er wird sich auf die Parkinson-Erkrankung des Versicherten konzentrieren.
In die Anamnese werden auch die Berichte der pflegenden Angehörigen einbezogen. Aus dem großen Ganzen gewinnt der Gutachter erste und wichtige Hinweise auf den Umfang der Pflegebedürftigkeit des Versicherten.