1. Sachlich bleiben – Gutachtertermin
Der Gutachter ist möglicherweise der Überbringer einer schlechten Nachricht. Er hat sie aber nicht verursacht. Das heißt, er führt einen Job durch, der ihm von seinem Arbeitgeber und der Politik mittels der erlassenen Gesetze in engen Grenzen vorgeschrieben wird. Er meint es in der Regel nicht persönlich, jedenfalls so lange nicht, wie ihn Versicherte oder deren Verwandtschaft nicht beleidigen oder bedrohen. Derartiges Verhalten berechtigt den Gutachter dazu, den Hausbesuch abzubrechen und ohne Ergebnis das Feld zu räumen. In der Folge wird ein zweiter Gutachter sein Glück versuchen. Wird auch dieser bedroht oder beleidigt, sodass er seinen Job nicht machen kann, dann war es das. Der MDK gibt den Auftrag zurück, und ohne Begutachtung gibt es auch keine Pflegestufe.
Die eherne Grundregel bleibt also: Ruhe bewahren und Kommentare über die fachliche Eignung des Gutachters und die Unwürdigkeit des ganzen Verfahrens tunlichst vermeiden. Solche Dinge werden an der Wahlurne entschieden, im konkreten Hausbesuch ist allein die Pflegeeinstufung entscheidend. Daher ist es günstiger, diesbezüglich zu schweigen und sich statt dessen Notizen zu machen. Die emotional gefärbten Notizen wirft man anschließend weg. Diejenigen Notizen, die Hinweise auf sachliche Fehler oder andere Gründe für einen Widerspruch geben, bereitet man entsprechend auf. Auseinandersetzungen können dem Gutachter die Möglichkeit geben, seine Fehler mit Hinweis auf dieses „Störfeuer“ den lieben Verwandten des Versicherten anzulasten.
Wohlgemerkt: Dies bedeutet nicht, sich alles wortlos gefallen zu lassen. Wenn Sie etwas nicht verstehen, fragen Sie! Der Gutachter ist zur Auskunft verpflichtet (mit Ausnahme der Nennung der Pflegestufe, die er empfehlen wird). Zur Beschwerde, sollte es denn einen Anlass geben, wendet man sich an den Auftraggeber, also die Pflegeversicherung.
2. Bei der Wahrheit bleiben
Versuchen Sie nicht, in einem Widerspruch oder einem Beschwerdeschreiben die Tatsachen in Ihrem Sinne zu schönen. Fällt Ihnen zum Beispiel erst nach der Begutachtung auf, dass Sie zu wenig notwendige Arztbesuche angegeben haben, so verfallen Sie bitte nicht auf die Idee, in einem Widerspruch zu behaupten, Sie hätten die „richtige“ Zahl genannt, der Gutachter aber eine zu niedrige Zahl aufgeschrieben.
Auch wenn der Gutachter Hunderte von Gutachten angefertigt hat, bis er Ihren Widerspruch auf den Tisch bekommt, wird er sich erinnern. Das gehört zu den so genannten Kernkompetenzen, die sich mit der Tätigkeit zwangsläufig einstellen. So, wie ein Berliner Taxifahrer jede winzige, abgelegene Sackgasse im Stadtgebiet kennt, so kann sich der Gutachter beim Studium seines Gutachtens an die Menschen, das Zimmer und an das Gesagte erinnern, auch Monate danach. Um sich diese Erinnerungsarbeit zu erleichtern, gewöhnen sich die Gutachter im Laufe ihrer Tätigkeit zudem bestimmte Tricks an. An verschiedenen Stellen des Gutachtens formulieren sie auf eine bestimmte Weise, was wie Eselsbrücken wirkt und das Erinnern erleichtert.
Außerdem vermag der MDK die Glaubwürdigkeit seiner Leute ziemlich gut einzuschätzen. Das liegt an der internen Qualitätskontrolle der Gutachten wie der Gutachter und an der internen Statistik, die genau erfasst, wie viel Prozent der Gutachten widersprochen wird und aus welchen Gründen. Von daher hat der Gutachter meistens erst einmal einen Glaubwürdigkeitsvorsprung. Mit platten Behauptungen kommen Sie also nicht weiter. Es muss auch gar nicht sein. Ein Schreiben, in dem Sie freundlich Ihren Fehler einräumen und die korrigierten Fakten nennen, muss berücksichtigt werden. Da sich kaum jemand die Mühe eines freundlichen Schreibens macht, hat damit wieder der Versicherte einen Vertrauensvorsprung.
3. Nicht mehr sagen, als man weiß.
Der Gutachter glaubt Ihnen erst einmal alles. Wenn Sie überzeugend sind, gibt es für den Gutachter keinen Anlass, den Arzt oder eine andere Stelle rückversichernd über den gleichen Sachverhalt zu befragen. Geben Sie deshalb insbesondere keine Schätzungen oder Vermutungen ab. Wenn Sie im Sinne der Pflegeversicherung zu wenig schätzen (zum Beispiel bei der Anzahl der Arztbesuche), wird der Gutachter in Unkenntnis Ihrer Unsicherheit von einer Tatsachenbehauptung ausgehen und entsprechend auf ein Hinterfragen verzichten. Wenn Sie etwas nicht wissen, sagen Sie das auch bitte.
4. Auf die Fragen des Gutachters hören
Der Gutachter geht einen standardisierten Fragenkatalog durch, den er entweder akribisch Punkt für Punkt abarbeitet, oder er springt den Äußerungen des Versicherten folgend hin und her. Grundsätzlich gilt aber, dass nur derjenige Hilfebedarf eine Rolle bei der Bemessung der Pflegestufe hat, der in diesem Fragebogen vorkommt. Das heißt:
■ Was nicht vom Gutachter erfragt wird, spielt keine Rolle!
■ Hilfebedarf, der nicht im Fragebogen vorkommt, spielt für die Pflegeversicherung keine Rolle.
So nützt es wenig, von der Notwendigkeit einer Begleitung beim Spazierengehen zu berichten. Das Verlassen des Hauses ohne Not und ohne Zweck (was man landläufig als „Spazierengehen“ bezeichnet) interessiert die Pflegeversicherung herzlich wenig.
5 . Krankheit nicht mit Pflegebedarf verwechseln
Vielfach glauben Versicherte und ihre Hausärzte, es käme allein darauf an, ein paar handfeste Krankheiten zu benennen, dann würde es schon hinhauen mit der Pflegestufe. Das ist so nicht richtig. Die Krankheit selbst steht nicht so sehr im Vordergrund. Sie spielt nur insoweit eine Rolle, als sie die Ursache, den Grund für eine mögliche Hilfsbedürftigkeit bildet, mehr nicht. Der Gutachter bemüht sich, in seinem Gutachten die folgenden drei Stufen zu skizzieren:
Krankheit —» Auswirkung —» Hilfebedarf.
Beispiel: Bei einem Versicherten wird die Krankheit Morbus Parkinson (Schüttellähmung) festgestellt. Als Auswirkung dieser Krankheit zittern dem Versicherten ab einem bestimmten Stadium sehr stark die Hände. Der Hilfebedarf besteht deshalb darin, beim Essen und Trinken zu helfen, weil wegen des Zitterns der Hände weder Gabel noch Gläser zielgerichtet an den Mund geführt werden können. Dieser Hilfebedarf wird in Minuten angegeben und trägt möglicherweise zur Feststellung einer Pflegestufe bei. Die Diagnose Morbus Parkinson wird aber bereits gestellt, wenn sich im Alltag nur sehr geringe Zeichen zeigen, die noch keinen Hilfebedarf erzwingen.
Dieses stark vereinfachte Beispiel zeigt exemplarisch auf, warum die Krankheit für sich genommen nicht zwangsläufig zu einer Pflegestufe führt, schon gar nicht zu einer ganz bestimmten Pflegestufe.
Parkinson stellt, wie praktisch alle Krankheiten, eine Diagnose dar, die nicht zwangsläufig auf die Auswirkungen im alltäglichen Leben schließen lässt. Wie bei jeder Erkrankung findet ein Verlauf statt, der von ersten Anzeichen über mannigfaltige Zwischenstufen bis zum schwer gezeichneten Patienten führen wird, zwischenzeitliche Besserungen des Zustandes durch Medikamente inklusive. Das Attest des Hausarztes mit der oft gesehenen Textzeile „langjährige Parkinson-Erkrankung“ gibt daher im ersten Augenblick nur einen Hinweis auf die Grunderkrankung. Der ebenfalls oft formulierte Nachsatz „deshalb ist Pflegestufe 1 (oder 2, je nach Hausarzt) aus unserer Sicht gegeben“ erweist sich daher für den Gutachter als wenig hilfreich.
In Kenntnis der Diagnose „Parkinson“ wird der Gutachter gezielt nach den typischen Auswirkungen dieser Krankheit Ausschau halten. Neben dem schon erwähnten Zittern der Hände kann dies unter Umständen ein versteifter Bewegungsapparat bis hin zu massiven Einschränkungen der Gehfähigkeit sein. Die Aufgabe des Gutachters besteht darin, den konkreten Umfang dieser Auswirkungen zu erkennen und zu beschreiben. Zittern die Hände stark oder eher schwach? Zittern sie auch dann, wenn der Patient ruhig steht oder sitzt, oder nur, wenn ein Gegenstand ergriffen werden soll? Ist die Gehbehinderung so gravierend, dass Sturzgefahr besteht und deshalb eine Hilfsperson den Gang zur Toilette absichern muss?
Anschließend bestimmt der Gutachter in Würdigung der Auswirkungen, bei welchen gesetzlichen Verrichtungen (waschen, kleiden etc.) welche Hilfeleistungen in welchem Umfang notwendig sind. Erst nach diesem Schritt kann der Gutachter darangehen, die Minutenwerte zu bestimmen, aus denen sich letztendlich die Pflegestufe berechnet.
Die Kenntnis der Krankheit stellt nur den ersten Schritt dar. Eine ganze Reihe von Untersuchungen und Prüfungen ist notwendig, bis ein komplettes Bild der Hilfebedürftigkeit entsteht, die sich aus dieser Krankheit ergibt.
6. Den Versicherten sprechen lassen
Die Begutachtung dient dazu, den Versicherten im Alltag in seiner gewohnten Umgebung bei seinen typischen Abläufen beurteilen zu können.
Oftmals begegnet man Angehörigen oder Bekannten, die bei der Begutachtung das Wort an sich reißen und dem Versicherten bei der Beantwortung der Fragen zuvorkommen. Das ist leider nicht Sinn des Ganzen und kann sich nachteilig auf das Ergebnis auswirken.
Bei der Begutachtung sollen unter anderem auch die Probleme und Einschränkungen des Versicherten zu Tage treten. Wenn also die Uhrzeit nicht genannt werden kann
oder die Zusammensetzung der letzten Mahlzeit, dann kann der Gutachter wichtige Schlüsse daraus ziehen.
Es ist absolut nicht notwendig, dass Angehörige für den Versicherten die richtige Antwort geben, schließlich handelt es sich nicht um ein Quiz, bei dem die richtige Antwort zu einem Gewinn führt. Eher im Gegenteil. Auch wenn der Versicherte entgegen aller Erkenntnisse behauptet, er könne sich noch absolut selbstständig versorgen, muss dies nicht auf der Stelle von den Angehörigen korrigiert werden. Gerade in dieser Situation kommt es gar nicht selten vor, dass der Versicherte emotional reagiert, entweder wütend oder mit Tränen, was dann die Begutachtung erheblich erschweren kann und möglicherweise auch das Ergebnis verfälscht.
Nicht verschwiegen werden soll auch ein anderes Problem: Äußern sich zwei Personen zum selben Tatbestand, tun sie dies nie in gleicher Weise. Richter kennen das Phänomen, dass Zeugen eines Verkehrsunfalls nie den gleichen Hergang schildern. In der Pflege verhält es sich ganz ähnlich. Das ist einigermaßen normal, weil ja jeder Beteiligte einen anderen Blickwinkel hat und auf Grund anderer Erfahrungen und Informationen die Dinge geringfügig anders bewertet.
So kann es Vorkommen, dass der Versicherte aus seiner Sicht das morgendliche Waschen ganz gut und ohne Hilfe hinkriegt, während für die Hilfsperson ganz erheblicher Hilfebedarf besteht, weil der Angehörige sehr langsam ist und über eine Stunde braucht, um sich allein zu versorgen.
In diesem Fall gibt es aber eine Lösung für den Gutachter, indem er Hilfebedarf berücksichtigt für Anleitung und Aufforderung, um den Vorgang abzukürzen. Oftmals muss er sich aber zwischen ganz unvereinbaren Erzählungen entscheiden. Das kann er nur, indem er die Plausibilität der einzelnen Erklärungen prüft. Irgendjemand wird dann am Ende als Erzeuger nicht plausibler Erklärungen dokumentiert.
Der beste Ablauf ist der, dass der Versicherte befragt wird und die Anwesenden ihm dies auch ermöglichen. Ergänzende Informationen fügen die Hilfspersonen an. Man sollte es aber vermeiden, in Gefahr zu kommen, widersprüchliche Aussagen zu machen.
7. Den Antrag nicht rechtfertigen
Für den Gutachter ist der Beweggrund für den Antrag bei der Pflegeversicherung nur wichtig, wenn er sich auf die Hilfeleistung bezieht; wenn also etwa angegeben wird, dass seit einem Schlaganfall diese und jene Hilfeleistungen notwendig sind und deshalb ein Antrag gestellt wurde.
Nicht hilfreich sind hingegen Erläuterungen der globalen Art, die mit der realen Situation nichts zu tun haben, etwa:
„Ich habe seit zig Jahren einbezahlt, nun ist es nur recht und billig, auch mal was herauszubekommen. “
„Ich möchte meinen Lebensstandard halten, dazu benötige ich die Leistungen der Pflegeversicherung. “
„Meine Kinder /Nachbarn/Freunde haben keine Lust mehr, mir für lau zu helfen, sie wollen auch mal Geld sehen. “
Diese und ähnliche Gründe veranlassen einen Gutachter in keinem Fall, eine wie auch immer geartete wohlwollendere Beurteilung zu verfassen. Mit der realen Notwendigkeit zur Hilfe haben diese Gründe nichts zu tun. Der Versicherte muss sich auch in keiner Weise rechtfertigen. Hier geht es um eine Versicherungsleistung, die absolut unabhängig von den Motiven und im Übrigen auch von der Vermögenssituation des Antragstellers gewährt wird. Darum sollte man der Versuchung widerstehen, sich möglicherweise um Kopf und Kragen zu reden. Der Gutachter braucht Fakten. Wenn der Versicherte nur sein Anspruchsdenken offenbart, kommt dem Gutachter womöglich der Gedanke, dass es an echten Gründen mangelt.