Versicherung ist gegenseitige Deckung zufälligen schätzbaren Geldbedarfs zahlreicher gleichartig bedrohter Wirtschaften. (Traditionelle Definition durch den Versicherungswissenschaftler Alfred Manes)
Vom Grundgedanken ihres Geschäftes her können sich die Versicherungsunternehmen mit einem Heiligenschein umgeben – und tun dies auch immer wieder, wenn sie auf Festveranstaltungen voll in die Tasten des Gefühlsklaviers greifen. In der Tat: Ohne Versicherungen würde unser Wirtschaftssystem weit weniger gut funktionieren. Bestimmte Risiken sind für einzelne einfach nicht mehr zu kalkulieren. Ohne Versicherung wäre die kommerzielle Raumfahrt ebensowenig möglich wie die Ölförderung. Henry Ford I. hat dies einmal einem Besucher erklärt, der sich wunderte, wie eine so großartige Stadt wie New York aufgebaut werden konnte: Das ist nur möglich durch die Versicherer. Sie sind die wahren Erbauer dieser Stadt. Ohne Versicherungen hätten wir keine Wolkenkratzer. Kein Geldgeber würde Gebäude finanzieren, die ein einziger Zigarettenstummel in Asche legen kann. Versicherungen nützen auch dem Verbraucher: Wer zum Beispiel einen großen Kredit zum Kauf eines Hauses aufnimmt, bietet seiner Bank als zusätzliche Sicherheit eine Lebensversicherung an. Der Kredit wird für die Bank sicherer, und damit kann sie niedrigere Zinsen anbieten. Auch die eigene finanzielle Existenz kann der Verbraucher gegen die Elementarrisiken des Lebens versichern, zum Beispiel durch eine Haftpflichtversicherung oder eine Berufsunfähigkeitsversicherung.
Es ist nicht bloß die Höhe der dem Versicherungszwecke gewidmeten und der durch die Versicherung gewährleisteten Summe, welche die wichtige Rolle des Versicherungswesens im Wirtschaftsleben bedingt. Vor allem müssen auch die ei-genartigen, für den Volkswohlstand und das ethische Volks-leben bedeutsamen Funktionen ins Auge gefasst werden, durch welche sich das Versicherungswesen von den sonstigen Wirtschaftszweigen wesentlich abhebt. Wie der durch die Versicherung ermöglichte Schutz des einzelnen gegen die vernichtenden und zerrüttenden Wirkungen elementarer Schäden eine wichtige volkswirtschaftliche und zugleich kulturelle Errungenschaft bildet, so ist die durch die Lebensversicherung zu erreichende Fürsorge der Versicherungsnehmer für die Zukunft ihrer Familienangehörigen nicht bloß eine für letztere segensreiche Betätigung des Familiensinnes und der Familienpflichten, sondern auch für den Vorsorgenden selbst ein Mittel, sich von drückender Sorge für die Zukunft zu befreien und sich für die Anforderungen der Gegenwart Mut und Schaffensfreudigkeit zu sichern. (Aus der amtlichen Begründung zum deutschen Versicherungsaufsichtsgesetz von 1901)
Die Idee der Versicherung ist also äußerst edel: Versicherungen schützen gegen die nachteiligen Folgen bestimmter Ereignisse. Sie schützen nicht nur den Versicherten selbst, sondern oft auch Dritte. Wer eine Haftpflichtversicherung abschließt, schützt zwar zunächst sich selbst vor der Zahlung von Schäden, aber er sichert damit zugleich dem Geschädigten einen finanziellen Ausgleich. Wer eine Risiko-Lebensversicherung in sechsstelliger Höhe abschließt, tut dies nicht, um seinen Sarg zu vergolden, sondern er sorgt für die Hinterbliebenen. Dies ist der ethische Wert der Versicherung. Versicherungen produzieren Sicherheit, sagt ein Werbeslogan zu Recht. Gleichzeitig entlasten die Versicherer den Sozialstaat, der sonst für viele Schäden aufkommen müsste. Doch die Versicherungsidee ist zum Geschäft geworden. Das sollte nicht bedauert werden, denn Selbsthilfeeinrichtungen könnten sicher nicht das gleiche Leistungsangebot bieten wie professionell geführte Unternehmen. Außerdem wäre eine Selbsthilfeeinrichtung, die die heute notwendige Größe einer Versicherung erreichen würde, keine Selbsthilfeeinrichtung mehr. Das zeigt am besten das Beispiel der großen Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, die aus der genossenschaftlichen Idee stammen. Das Ärgerliche – um ein mildes Wort zu gebrauchen – am heutigen Versicherungssystem ist jedoch, dass die Versicherungen immer mehr überflüssige, falsche und zu teure Versicherungen ersonnen haben und anbieten – und das trotz einer ständigen Beaufsichtigung durch die Behörden zumindest bis Mitte 1994.
Die Geschäftsgrundlage: Risiko, Gefahr, Zufall
Die Begriffe Risiko und Gefahr klingen dramatisch. Wer mit ihnen zu tun hat, könnte einen Hauch von John Wayne oder James Bond haben. Nichts wäre trügerischer: Die Versicherungen sind wahrscheinlich die konservativste und vorsichtigste Branche der Republik. Dennoch beruht ihr Geschäft auf dem Risiko, grob definiert als Möglichkeit des Eintritts von schädigenden Ereignissen. Gegen den Eintritt des Schadens kann niemand hundertprozentig geschützt werden, wohl aber gegen dessen wirtschaftliche Folgen. Doch Versicherer sind keine Draufgänger, sondern im Grunde ihres Herzens nüchterne Mathematiker. Versicherungen leben vom Zufall. Geschäfte dieser Art werden nach dem lateinischen Wort für Würfel aleatorische genannt. Die Urfiguren aleatorischen Charakters sind Spiel und Wette. Doch haben die Versicherer vier Methoden an der Hand, um den Zufall kalkulierbar zu machen.
Das Gesetz der großen Zahl. Nein, hierbei handelt es sich nicht um das Wachstumsprinzip einiger Versicherungen, sondern um das Kalkulationsprinzip auch noch der kleinsten Versicherung. Das Gesetz der großen Zahl besagt, dass die relativen Häufigkeiten zufälliger Ereignisse umso weniger voneinander abweichen, je größer die Zahl der Objekte oder Personen ist, bei denen diese Ereignisse ein- treten können. Paradebeispiel hierfür ist das Würfeln. Je öfter gewürfelt wird, desto mehr gleicht sich das geworfene Ergebnis 6 der mathematischen Wahrscheinlichkeit von einem Sechstel aller Würfe an. Entsprechend gilt für die Versicherung: Je größer also die Zahl der Versicherten ist, desto stabiler ist die Schadenquote. Zwar kann niemand wissen, wer einen Autounfall hat, doch die Gesamtzahl aller Unfälle ist berechenbar und bleibt auch über die Jahre hinweg in Relation zur Zahl der versicherten Fahrzeuge recht konstant. Aufgrund dieser Zahl und der durchschnittlichen Schadenhöhe kann der Beitrag berechnet werden.
Gruppierung gleicher Risikogruppen (Selektion und Nivellierung). Schließen sich viele Menschen in einer sogenannten Versichertengemeinschaft oder Gefahrengemeinschaft zusammen, ergibt sich ein Risikoausgleich. Die Gemeinschaft ist jedoch lediglich fiktiv: Die Mitglieder kennen sich untereinander nicht, jedes Mitglied sucht seine individuellen und egoistischen Ziele materieller Art zu verwirklichen. Gemeinschaft ist also ein rein technischer Begriff. Die Versicherer bemühen sich umsogenannte gute Risiken, damit sie zumindest kurzfristig besonders erfolgreich sein können. Das bekannteste Mittel dazu ist die Gesundheitsprüfung in der Lebens- oder Krankenversicherung. Außerdem müssen bestimmte Berufsgruppen in einigen Versicherungen Zuschläge zahlen, andere bekommen dagegen Rabatte. Mit steigender Zahl der Verträge aber wird sich jede Versicherung wieder dem Durchschnitt annähern. Eine vorsichtige Zeichnungspolitik der Versicherungen betrifft vor allem die Höhe der Versicherungssummen.
Zeitfaktor. Zufällige Schwankungen im Schadenverlauf können die Versicherer auch durch den zeitlichen Ausgleich bewältigen. Die Gelder hierfür werden in einem eigenen Posten in der Bilanz angesammelt: den Schwankungsrückstellungen. In besonders schaden-
Nicht kalkulierbare Risiken der Versicherung:
Zufallsrisiko: Glück oder Pech in der Schadenentwicklung, zum Beispiel durch zufällig eintretende Großschäden Änderungsrisiko: ein eventuell ungünstiger Trend während der Laufzeit (mehr Verkehr, höhere Kosten, mehr Arbeitsunfälle) Katastrophenrisiko: Großschäden durch Erdbeben, Stürme oder Flutenträchtigen Jahren werden Gelder entnommen, in besonders schadenarmen Jahren Gelder zurückgestellt.
Statistik. Gegen den Zufall setzen die Versicherer die Statistik. Denn Schäden treten nicht mit absoluter Sicherheit auf, sondern nur mit einer relativen Wahrscheinlichkeit. Sie drohen vielen, aber nur wenige werden von ihnen getroffen. So kann die Wahrscheinlichkeit des Schadeneintritts anhand von Erfahrungswerten kalkuliert werden. Nicht versicherbar sind dagegen Schäden, die eine große Zahl zur gleichen Zeit treffen. Daher gelten Risikoausschlüsse für Krieg, Erdbeben und Hochwasser. Die Versicherungen führen umfangreiche Statistiken über die Schadenfälle und Schadenursachen. Sie müssen diese Statistiken stetig an die sich wandelnde Wirklichkeit anpassen. So verändert sich das Sterblichkeitsrisiko für die Lebensversicherung mit der zunehmenden Lebenserwartung durch medizinischen Fortschritt. Oder für die Feuerversicherung verändert sich die Schadenwahrscheinlichkeit durch die zunehmende Verwendung besonders feuersicherer Materialien. Auch Großereignisse wie Stürme oder Hagel erfordern eine langfristige statistische Beobachtung. Durch all diese Mittel bekommen die Versicherungen den Zufall gut in den Griff. Wenn daher ein Versicherer in Konkurs geht, dann liegt der Grund nicht in sprunghaft gestiegenen Schäden. Große Verluste können die Versicherungen vor allem machen, wenn sie das ihnen anvertraute Geld falsch anlegen. Die 1991 teilweise in Schieflage geratenen amerikanischen Versicherer zum Beispiel legten in Anleihen unsicherer Schuldner an, die schließlich nicht mehr zahlen konnten. Schäden dagegen sind ein sicheres Geschäft.