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Härtefall, kein Ermessensspielraum wegen Gleichbehandlungsgrundsatz – Pflegeversicherung Urteile

Härtefall
Fall 1:
Zwischen den Beteiligten war streitig, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Pflegesachleistungen bis zum Betrag von 3.750 € monatlich als Härtefallregelung gegeben waren. Der 1945 geborene Kläger war infolge eines erblich bedingten Leidens ebenso wie seine Schwester schwerstgelähmt bei völliger Stuhl- und Harninkontinenz und chronischem Dekubitus. Er war auf den Rollstuhl angewiesen und konnte nur mit einem Lifter ins Bett gebracht werden. Die beklagte Pflegekasse hatte ihn in die Pflegestufe 3 eingestuft und bezahlte die Leistungen eines ambulanten Pflegedienstes bis zum Betrag von 2.800 € monatlich. Daneben wurde der Kläger wie auch die Schwester von seiner Mutter gepflegt.

Die Pflegekasse lehnte seine Einstufung als Härtefall mit der Begründung ab, dass er bei einem täglichen Grundpflegebedarf von 323 Minuten nicht auch nachts eine zweistündige Grundpflege benötige, wie es in den Härtefallrichtlinien geregelt sei. Das Sozialgericht hat die Beklagte zur Leistung verurteilt mit der Begründung, dass die Richtlinien der Pflegekassen der Bejahung einer Härte im Einzelfall nicht entgegenstünden. Dabei müsse auch die doppelte Beanspruchung der Mutter durch die Pflege ihrer Tochter mitberücksichtigt werden. Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es hat einen Gesamtpflegeaufwand von 366 Minuten täglich festgestellt, davon eine Stunde nachts zwischen 22.00 Uhr und 6.00 Uhr. Dieser Pflegebedarf übersteige in ganz erheblichem Ausmaß die für die Pflegestufe 3 festgesetzten Mindestzeiten, so- dass die Voraussetzungen einer fiktiven Pflegestufe 4 klar erfüllt würden. Deshalb könne offen bleiben, ob auch ein außergewöhnlicher Einsatz der Pflegeperson zu berück-sichtigen wäre.

Mit der Revision rügte die Beklagte, das Landessozialgericht (LSG) habe verkannt, dass es sich bei der Härtefallregelung um eine Ermessensleistung der Pflegekassen handele. Das Ermessen sei in Form der Richtlinien rechtmäßig ausgeübt worden. Insbesondere sei ein zweistündiger nächtlicher Hilfebedarf als Abgrenzung zur Pflegestufe 3 erforderlich, weil schon dort ein regelmäßiger nächtlicher Hilfebedarf verlangt werde. Im Übrigen komme es allein auf den Pflegebedarf, nicht aber auf die Belastung der Pflegeperson an.

Die Revision der Beklagten hatte Erfolg. Zwar stand ihr bei der Entscheidung über die Anerkennung eines Härtefalls kein Ermessensspielraum zu. Sie war vielmehr zur Wahrung der Gleichbehandlung der Versicherten an die Richtlinien gebunden, deren Rechtmäßigkeit aber von den Gerichten zu überprüfen ist. Diese Überprüfung ergab, dass die Richtlinien bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu beanstanden waren, weil den Spitzenverbänden der Pflegekassen angesichts der Neuartigkeit der Materie ein bestimmter Zeitraum eingeräumt werden muss, um die praktischen Folgen der ihnen vom Gesetzgeber übertragenen Aufgabe zur Entwicklung geeigneter Maßstäbe für eine gleichmäßige Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs zu beobachten.

Eine wesentliche Vorgabe des Gesetzes besteht darin, dass die Zahl der ambulanten Härtefälle 3 von Hundert (vH) der in die Pflegestufe 3 eingeordneten Versicherten nicht überschreiten darf. Andererseits steht es den Pflegekassen nicht frei, dieses für Härtefälle vorgesehene Leistungsvolumen auf Dauer nicht oder nur zum Teil auszuschöpfen. Die bisherigen Erfahrungen, nach denen im Bundesdurchschnitt stets unter 1 von Hundert (vH) der Pflegebedürftigen der Pflegestufe 3 als Härtefälle anerkannt werden, lassen darauf schließen, dass die bestehenden Richtlinien zu eng gefasst sind und überarbeitet werden müssen. Das kann aber nicht zur Folge haben, bereits zum jetzigen Zeitpunkt dem Kläger die für den Härtefall vorgesehene Leistungserhöhung zuzusprechen, wie es das LSG getan hat. Denn es lässt sich nicht übersehen, ob bei Ein-beziehung aller Personen mit demselben Pflegebedarf wie dem des Klägers noch die Begrenzung auf 3 von Hundert (vH) der Schwerstpflegebedürftigen eingehalten werden kann.

Dies werden vielmehr die Spitzenverbände der Pflegekassen bei der anstehenden Überarbeitung der Richtlinien unter Auswertung der bisherigen Erfahrungen und evtl. neuer statistischer Erhebungen zu erwägen haben. Wegen des außergewöhnlichen Einsatzes der Pflegeperson konnte der Härtefall auch nicht bejaht werden. (SG Ulm – S 1 P 838/99 LSG Baden-Württemberg – L 4 P 4483/99 – B 3 P 2/01 R)

Fall 2:
Die Klägerin begehrt als Rechtsnachfolgerin ihres verstorbenen Ehemannes Erstattung der Kosten für dessen künstliche Beatmung durch qualifiziertes Personal in einem von den Pflegekassen zugelassenen Pflegeheim, das dafür neben dem Pflegesatz der Pflegestufe 3 auf Grund einer Vereinbarung mit dem Versicherten täglich zusätzlich 185,73 I >M vom 3.1.1998 bis zu dessen Tode am 8.7.1998 in Rechnung gestellt und bezahlt bekommen hat. Den noch während des vorausgegangenen Krankenhausaufenthalts gestellten Antrag auf Kostenübernahme der vorgesehenen Heimpflege lehnte die beklagte Krankenkasse später ab: Es handle sich nicht um eine häusliche Krankenpflege; für die Behandlungspflege in einem zugelassenen Pflegeheim sei die Pflegekasse zuständig.

Die Klage, mit der die Klägerin geltend gemacht hat, dass derartige Maßnahmen einer medizinischen Intensivbehandlung nicht in den Rahmen der von den Pflegekassen zu leistenden Behandlungspflege fielen, war in den Vorinstanzen erfolglos. Das Landessozialgericht (LSG) hat zur Begründung ausgeführt, außerhalb von Krankenhäusern habe die Krankenkasse nur im Haushalt des Versicherten oder seiner Familie Krankenpflege ohne Höchstgrenzen zu leisten. Für die Behandlungspflege im Pflegeheim sei die Pflegekasse zuständig, die dafür allerdings nur bis zum Höchstbetrag von monatlich 2.800 € einzutreten habe. Die gesetzliche Differenzierung verstoße nicht gegen den Gleichheitssatz des Grundgesetzes. Mit der Revision rügte die Klägerin, dass eine Schlechterstellung dieser Art Pflege gegenüber einer Pflege im Haushalt verfassungswidrig sei.

Die Sachen wurden zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung unter dem Aktenzeichen B 3 KR 27/01 R verbunden. Die Revision der Klägerin, die ihren Antrag gegen die Pflegekasse auf Anregung des Senats nur noch hilfsweise gestellt hat, hatte im Sinne der Aufhebung der angefochtenen Urteile und Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Vorinstanz Erfolg. Die bisherigen Tatsachenfeststellungen reichten nicht aus, um abschließend zu entscheiden. Zu Recht habe das LSG zwar angenommen, dass häusliche Krankenpflege zu Lasten der Krankenversicherung bei Heimunterbringung des Pflegebedürftigen nicht in Betracht kommt, weil es an einem Haushalt fehlte und für die Gewährung von Behandlungspflege jeder Art dort die Pflegekasse zuständig sei. Es habe aber nicht geprüft, ob der Versicherte von der Beklagten zutreffend auf die Möglichkeit einer Pflege im eigenen Haushalt durch einen ambulanten Pflegedienst auf Kosten der Krankenkasse hingewiesen worden sei. Wenn das zu verneinen sein sollte, läge eine Verletzung der gesetzlichen Beratungspflicht vor, die zu einem Kostenerstattungsanspruch entsprechend den Grundsätzen des richterrechtlich entwickelten Herstellungsanspruchs führe.

Für den Fall, dass eine Verletzung der Beratungspflicht zu verneinen ist, kommt allein die Leistungspflicht der Pflegekasse in Betracht. Die auf die Härterichtlinien gestützte Ablehnung eines Härtefalls erweist sich wie in Fall Nr. 1 auch hier insoweit bedenklich, als der vom Gesetz für stationäre Pflege in der Pflegestufe 3 eingeräumte Anteil von 3 von Hundert (vH) an Härtefällen ebenfalls von allen Kassen bei weitem nicht erreicht worden ist. Außerdem ist zu vermuten, dass Fälle vielfach zu Unrecht anerkannt sind. Denn ein Härtefall kann nur angenommen werden, wenn der Versicherte in erheblichem Umfang pflegebedingte Mehraufwendungen im Vergleich zu einem durchschnittlichen Pflegebedürftigen der Pflegestufe 3 hat. Da aber Pflegeheime gegenüber allen Pflegebedürftigen der Pflegestufe 3 unabhängig vom tatsächlichen Pflegeaufwand nur einen einheitlichen Pflegesatz in Rechnung stellen dürfen, fehlt es auch bei den am schwersten Betroffenen bei Heimpflege im Unterschied zur ambulanten Pflege in der Regel an einem Mehraufwand. Ein solcher wäre etwa dann zu bejahen, wenn es sich um ein Spezialheim für bestimmte Formen von Schwerstpflege mit einem entsprechend hohen Pflegesatz handelt, der nach Ausschöpfung der Leistungsgrenzen der Pflegekassen zu einer hohen Eigenbelastung des Versicherten führt.

Sofern es auf den Hilfsantrag ankommt, wird das LSG zu prüfen haben, ob in die- Kin Fall unter Einbeziehung der Behandlungspflege der Härtefall bejaht werden kann, ohne dass dadurch bei allgemeiner Anwendung die Begrenzung der Quote auf 3 von 1 hindert (vH) der Fälle in Frage gestellt wird. (SG Stuttgart – S 4 KR 5830/98, LSG Baden-Württemberg – L 4 KR 942/00 – B 3 KR 27/01 R)

Dez 4, 2017gesundhe-admin
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