Wer Geld hat, hat auch Freunde.
(Sprichwort)
Versicherungsmanager sind vorsichtige, aber wichtige Leute. Mit Kapitalanlagen von über 1480 Milliarden € 1999 zählen sie zu den Großkunden am Kapitalmarkt und betonen auch gerne ihre volkswirtschaftliche Bedeutung als Kapitalsammelbecken. Als besondere Leistung der deutschen Versicherungswirtschaft, vor allem der Lebensversicherung, wird die Finanzierung des Wohnungsbaus nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg genannt. Am wichtigsten aber sind die Kapitalanlagen für sie selbst: Sie erwirtschaften daraus jährlich Erträge von rund 80 Milliarden €. Damit werden zugleich auch die Zahlungsverpflichtungen der Versicherer erfüllt. Bei der Lebensversicherung, die rund zwei Drittel der Kapitalanlagen stellt, kommen die Erträge den Versicherten als Überschussbeteiligung zugute. Bei der Schaden- und Unfallversicherung gleichen fast immer erst die Kapitalerträge die versicherungstechnischen Verluste aus und sorgen so für eine positive Bilanz der Versicherungen. Doch nur einen geringen Teil des Geldes legen die Versicherer tatsächlich an den Wertpapierbörsen an. Sie halten 41 Prozent ihres Kapitals in risikolosen, nicht börsennotierten Schuldscheindarlehen. Schuldscheindarlehen sind Darlehen, über die ein Schuldschein ausgestellt wird. Der Geldgeber erhält hierfür höhere Zinsen als bei der Bank, der Geldnehmer braucht weniger Zinsen als dort zu zahlen. Mit dieser Position stellt die Versicherungswirtschaft gerne ihre volkswirtschaftliche Bedeutung als Finanzier heraus. Dieses Geld würde direkt den Emittenten zugute kommen, also der öffentlichen Hand, der gewerblichen Wirtschaft und den Kreditinstituten. In der Tat freut sich vor allem die Kreditwirtschaft, die sich damit billig refinanzieren kann. Börsennotierte festverzinsliche Wertpapiere dagegen scheuen die Versicherungen: Sie sind ihnen zu risikoträchtig. Denn ihr börsennotierter Kurs schwankt mit der Rendite am Kapitalmarkt.
Diese Papiere müssen aber von den Versicherungen gemäß dem Niederstwertprinzip mit dem jeweils historisch niedrigsten Kurs nach Erwerb in der Bilanz geführt werden, soweit sie nicht in Namenspapiere umgeschrieben werden. Bei einem Rentencrash wie im Vereinigungsjahr 1990 stiegen die Renditen jedoch binnen Wochen um mehr als einen Prozentpunkt: Die Versicherungen mussten Millionenwerte auf Wertpapiere abschreiben. Zur Begründung ihrer konservativen Anlagepolitik verweisen die Versicherer auf die Vorschriften des Versicherungsaufsichtsgesetzes. Doch die dort gesetzten Höchstgrenzen für Wertpapiere werden von keiner deutschen Gesellschaft auch nur annähernd ausgeschöpft. Der allgemeine Paragraph 54 Absatz 1 des Versicherungsaufsichtsgesetzes fordert, dass die Kapitalanlagen der Versicherten so getätigt werden, dass möglichst große Sicherheit und Rentabilität bei jederzeitiger Liquidität unter Wahrung angemessener Mischung und Streuung erreicht werden. Die Novellierung der Kapitalanlagevorschriften zum 1. Januar 1991 erweiterte die Spielräume der Versicherer. Nun können fünf Prozent des Deckungsstocks der Lebensversicherung und 20 Prozent des übrigen gebundenen Vermögens in fremden Währungen angelegt werden. Vorher mussten solche Fremdwährungsanlagen durch das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen im Einzelfall genehmigt werden. Die Anlagegrenze für Aktien und andere Beteiligungswerte und Investmentzertifikate wurde auf 30 Prozent des Deckungsstocks oder des sonstigen Vermögens heraufgesetzt. Auch Termin- und Optionsgeschäfte gehören zu den zulässigen Geschäften von Versicherungen, wenn sie der Absicherung vorhandener Anlagen oder dem Erwerb von Vermögensgegenständen dienen.
Kapitalanlagen der deutschen Versicherungen 1998 | ||
Mrd. € | Prozent | |
Namensschuldverschreibungen, Schuldscheinforderungen, Darlehen | 560,4 | 41,5 |
Festverzinsliche Wertpapiere und Anteile | 155,0 | 11,5 |
Hypotheken-, Grund- und Rentenschuldforderungen | 119,9 | 8,9 |
Grundstücke | 48,0 | 3,6 |
Beteiligungen | 112,4 | 8,3 |
Darlehen und Vorauszahlungen auf Versicherungsscheine | 9,9 | 0,7 |
Aktien | 53,8 | 4,0 |
Investmentanteile | 223,8 | 16,6 |
Festgelder | 16,1 | 1,2 |
Gesamtsumme | 1 352,0 | 100,0 |
Quelle: GDV – Jahrbuch 1999a
Wichtig war den Versicherungen auch die Öffnungsklausel – im Jargon spöttisch Chaotenklausel genannt nach der fünf Prozent der Kapitalanlagen in Werten angelegt werden können, die nicht ausdrücklich im Anlagekatalog genannt werden oder die die im Gesetz genannten Anlagegrenzen übersteigen. Ansätze zu einer moderneren Anlagepolitik sind zwar erkennbar, eine generelle Wende aber ist noch weit entfernt. Der Anteil von direkt gehaltenen Aktien stieg zwar seit 1980 um das Zweieinhalbfache, liegt aber immer noch bei nur sechs Prozent. Der Hauptgrund der Zurückhaltung von Lebensversicherern bei Aktien liegt in bilanziellen und steuerlichen Aspekten. Steigende Beliebtheit erfahren hingegen seit kurzem Spezialfonds, die einige der Nachteile der direkten Aktienanlage kompensieren. Vor allem kommen die Versicherer über diesen Weg auch an das benötigte Spezialistenwissen heran, das sie selbst nicht haben. Die personelle Ausstattung der Anlageabteilungen ist noch äußerst dürftig: Übersehen wird dabei, dass eine Erhöhung der Durchschnittsrendite um 0,1 Prozent bei einem durchschnittlichen Kapitalanlagebestand von rund 4 Milliarden € je Lebensversicherungsunternehmen rund 4 Millionen € pro Jahr brutto an Mehrerträgen bringt. Der zweite wichtige Grund liegt in der bei Lebensversicherungen üblichen Formel zur Ermittlung der Rendite der Kapitalanlagen (Verbandsformel). Dabei werden nur laufende Erträge berücksichtigt. Dies benachteiligt jedoch Aktien und Werte, die in erster Linie von Kursgewinnen und Substanzzuwachs profitieren. Außerdem argumentieren die Versicherer mit den hohen Transaktionskosten bei Kauf und Verkauf von Wertpapieren und dass über lange Perioden nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die Mitte der achtziger Jahre hinein die Rendite deutscher Aktien (Dividendenrendite plus Kursgewinne) unter der Verzinsung deutscher Rentenwerte gelegen habe. Ganz anders dagegen ist die Anlagepolitik ausländischer Versicherer: Vor allem die Briten nutzen alle Möglichkeiten des Kapitalmarkts, nicht nur Aktien, sondern auch Termingeschäfte. Die deutschen Versicherer dagegen hatten damit bisher wenig Glück. Die beiden Kölner Versicherer Colonia und Gothaer machten mit diesen Geschäften hohe Millionenverluste.
Die Diskussion um die stillen Reserven
Ungerecht ist die deutsche Bilanzregelung für die Versicherten schon: Verliert der Versicherer mit den Kapitalanlagen der Versicherten Geld, kann er diese als Abschreibungen in der Bilanz abziehen. Kauft er also eine Aktie zu 200 € und die Aktie fällt auf 100 €, werden 100 € als Verlust anerkannt, die Überschussausschüttung für die Versicherten reduziert sich also um 100 €. Steigt die Aktie dagegen auf 400 € sehen die Versicherten davon nichts: Der Gewinn von 200 € erscheint in der Bilanz nicht, da dort die Papiere nur zum Anschaffungspreis oder nach dem Niederstwertprinzip zum tiefsten Kurs nach Anschaffung geführt werden. Die 200 € Kursgewinn tauchen also nicht auf, sie sind stille Reserve. Solange die Überschussbeteiligung der Lebensversicherer freiwillig bleibt, kommen die Versicherten garantiert zu kurz. Denn dank der Bilanzierungsregeln können die Versicherer stille Reserven bilden, so viel sie möchten. Besonders beliebt sind Immobilien: Der Versicherer kauft als langfristige Anlage ein Prachtgrundstück in bester Zentrumslage und schreibt es über 20 oder 30 Jahre auf den Erinnerungswert von 1 € in der Bilanz ab. In Wirklichkeit ist es aber vielleicht mehrere hundert Millionen € wert.
Der Versicherte, der in dieser Zeit eine Police bei der Gesellschaft hatte, geht leer aus. Selbst wenn die stillen Reserven bei einem Verkauf realisiert werden, erlaubt das Bilanzrecht, sie auf neue Kapitalanlagen zu übertragen. Lebensversicherungen sind im Grunde nichts anderes als Kapitalanlagegesellschaften. Nach dem Gesetz über Kapitalanlagegesellschaften (KAGG) müssen diese aber Kundengelder nicht nur als Sondervermögen verwalten, sondern vor allem die erworbenen Wertpapiere nach ihrem Tageskurs und Grundstücke mit ihrem aktuellen Verkehrswert gegenüber den Anlegern abrechnen. Nur die Versicherungen pochen hier auf ihre Besonderheit und bilden bei Kursgewinnen stille Rerserven. Im Ausland sind stille Reserven längst passe: Britische Lebensversicherer bilanzieren ihr Vermögen stets zum aktuellen Wert. Sie schütten auch den Wertzuwachs aus – ein Grund für die höheren Renditen englischer Policen. Die britische Lebensversicherung arbeitet wie ein Investmentfonds: Der Hauptgewinn wird nicht aus Zinsen und Dividenden erwirtschaftet, sondern aus Kursgewinnen. In Frankreich sind sogenannte Capitalisationspolicen auf dem Vormarsch. Sie trennen Todesfallschutz und Kapitalbildung. Die Sparanteile werden treuhänderisch verwaltet. Diese Trennung sollte auch der deutsche Versicherte endlich bekommen. Leider hat der Bund der Versicherten einen Prozess in Sachen stille Reserven vor dem Bundesgerichtshof Ende 1994 verloren. Die Richter urteilten, es sei Sache der Versicherung, wie sie ihren Überschuss ermittelt. Sie müsse sich lediglich im gesetzlichen Rahmen bewegen. Vorgeschrieben ist aber nur, dass 90 Prozent der in der Bilanz ausgewiesenen Überschüsse den Versicherten gutgeschrieben werden müssen. Doch immerhin: Der gesetzliche Rahmen hat sich mit dem neuen Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) geändert. Nun sind die Versicherer beim Vertragsabschluss verpflichtet, über die Methoden der Gewinnbeteiligung und -ermittlung Auskunft zu geben. Verbraucher können damit künftig ihre Überschussbeteiligung vor Gericht überprüfen lassen. Weiterer Trost für die Versicherten ist für 1999 angekündigt. Dann will Bonn die EU-Richtlinie umsetzen, dass neben dem Buchwert auch der aktuelle Wert (Zeitwert) der Kapitalanlagen genannt wird. Allerdings soll dies nur in einer Summe geschehen. Die Allianz AG bringt es im gesamten Konzern auf 90 Milliarden € stille Reserven.
Allein ihre Tochter Allianz Lebensversicherung, der größte deutsche Lebensversicherer, brachte es im Schnitt der letzten 15 Jahre auf stille Reserven von 11,1 Prozent der Kapitalanlagen. In dieser Zeit schwankte der gegenüber dem Buchwert höhere Zeitwert zwischen 7,5 und 19,3 Prozent. Dadurch konnte die Gewinnbeteiligung der Kunden trotz sinkender Kapitalmarktzinsen und schwankender Aktienkurse auf relativ hohem Niveau gehalten werden. Im Umkehrschluss gilt: Versicherer mit wenig oder keinen stillen Reserven (Branchenjargon: stille Verluste) werden Gewinnversprechen für ihre Kunden auf Dauer kaum erfüllen können.