Nächtlicher Hilfebedarf
Sachverhalt: Die Klägerin ist im Jahre 1914 geboren und bei der beklagten Pflegekasse versichert. Sie leidet an einem Zustand nach Schlaganfall (1988) mit Halbseitenlähmung links, einer Epilepsie, einem Verschleiß der großen Arm- und Beingelenke sowie einer Harn- und gelegentlichen Stuhlinkontinenz. Sie lebt in einer eigenen Wohnung im selben Haus mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter, von denen sie versorgt und gepflegt wird; außerdem wird die Klägerin durch einen ambulanten Pflegedienst werktäglich je eine Stunde morgens und abends gepflegt. Seit Februar 1996 wird sie zwei, seit Januar 1997 drei Tage in der Woche von 9 bis 16 Uhr in einer Tagespflegestation betreut.
Nach dem Antrag der Klägerin auf Leistungen der sozialen Pflegeversicherung vom September 1994 wurde sie durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Hessen (MDK) begutachtet, der ausführte, die Klägerin werde wegen einer so genannten Stressinkontinenz tagsüber mit Einlagen und nachts mit Windeln versorgt. Die Klägerin werde zwischen 22 und 23 Uhr zu Bett und morgens zwischen 7 und 8 Uhr wieder zur Toilette gebracht. Eine Nachtklingel sei nach mehrfacher grundloser Benutzung durch die Klägerin wieder entfernt worden. Die Beklagte bewilligte ab 1. April 1995 Leistungen der häuslichen Pflegehilfe nach Pflegestufe 2 (Bescheid vom 4. Mai 1995), lehnte aber Leistungen nach Pflegestufe 3 ab (Bescheide vom 3. und 10. November 1995, Widerspruchsbescheid vom 14. Februar 1996).
Im Klageverfahren hat die Klägerin vorgetragen, nach einem für alle Beteiligten mühsamen Lernprozess sei ihre Versorgung – wie geschildert – umgestellt worden; optimal wäre aber eine ein- bis zweimalige nächtliche Hilfe beim Toilettengang, wozu ihre Angehörigen jedoch nicht in der Lage seien. Die Leistungen der Pflegestufe 3 seien auch auf Grund ihrer insgesamt schlechten körperlichen Verfassung und ihres entsprechenden Pflegebedarfs gerechtfertigt. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 13. Februar 1997), das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 17. Juni 1999). Es hat einen nächtlichen Hilfebedarf mit der Begründung verneint, die nach 22 Uhr durchgeführten Toilettengänge entsprächen nur den individuellen Schlafgewohnheiten der Klägerin und führten zu keiner Unterbrechung der Nachtruhe. Während der Nacht sei die Klägerin ausreichend mit Windeln versorgt.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung der §§ 103, 128 und 136 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sowie der Art. 1, 3 Grundgesetz (GG) und der §§ 2, 3, 14, 15 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI). Das LSG habe verfahrensfehlerhaft in seinen Gründen weder die hilfebedürftigen Verrichtungen noch den daraus resultierenden Pflegebedarf, sondern nur die Eintragungen in den Pflegetagebüchern dargestellt. Materiell verstoße die Zumutung einer nächtlichen Versorgung mit Windeln gegen die Würde des Menschen, das Selbstbestimmungsrecht und das gesetzgeberische Ziel, möglichst lange die – vorrangige – häusliche Pflege zu ermöglichen. Ihr Einverständnis ändere daran nichts, weil sie es nur wegen der begrenzten Kräfte ihrer Angehörigen erteilt habe. Ein nächtlicher Hilfebedarf bestehe objektiv. Wenn sie wie in einer stationären Einrichtung bereits nach dem Abendessen zu Bett gebracht würde, wären später Hilfen beim Trinken und zwei bis drei nächtliche Kontrollgänge erforderlich.
Entscheidung:
Die Revision der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§ 170 Abs. 2 SGG) begründet. Die bisher getroffenen Feststellungen des LSG lassen keine abschließende – positive oder negative – Entscheidung der Frage zu, ob die Klägerin schwerstpflegebedürftig ist und daher Anspruch auf Leistungen der häuslichen Pflegehilfe nach Pflegestufe 3 hat. Mit der vom LSG gegebenen Begründung durfte ein nächtlicher Hilfebedarf nicht verneint werden. Denn ein nach 22 Uhr durchgeführter Toilettengang erfolgt auch dann bereits nachts, wenn der Pflegebedürftige noch nicht zur Nachtruhe gekommen ist. Es kommt allein darauf an, ob eine so späte Hilfe beim Toilettengang objektiv geboten ist oder, ohne pflegerische Defizite zur Folge zu haben, auch vor 22 Uhr hätte erfolgen können. Das LSG wird deshalb festzustellen haben, ob die Klägerin auch vor 22 Uhr zu Bett gebracht werden kann, ohne dass andere nächtliche Hilfeleistungen stattdessen erforderlich werden, wenn nein, ob ferner eine Pflege der Klägerin im Umfang der für die Pflegestufe 3 notwendigen Mindestzeiten – fünf Stunden täglich insgesamt und davon vier Stunden in der Grundpflege – erforderlich war und ist.
1. Die Verfahrensrügen der Klägerin greifen allerdings nicht durch. Da ein nächtlicher Hilfebedarf, dessen Fehlen nach Auffassung des LSG der Bejahung der Pflegestufe 3 entgegensteht, nur hinsichtlich der Hilfe beim Toilettengang und beim Trinken in Betracht gekommen ist und kommt, kann in der Nichterwähnung der übrigen Verrichtungen und des daraus resultierenden – im Wesentlichen nur tagsüber relevanten – sonstigen Pflegebedarfs der Klägerin in den Entscheidungsgründen (§ 136 Abs. 1 Nr. 5 und 6 SGG) oder in fehlenden entsprechenden Ermittlungen (§ 103 Abs. 1 Satz 1 SGG) und Beweiswürdigungen (§ 128 Abs. 1 Satz 2 SGG) kein Verfahrensfehler gesehen werden.
2. Die Feststellungen des LSG reichen jedoch für eine abschließende Entscheidung nicht aus. Pflegebedürftige haben bei häuslicher Pflege Anspruch auf Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung als Sachleistung (§ 36 Abs. 1 Satz 1 SGB XI); anstelle der häuslichen Pflegehilfe kann der Pflegebedürftige ein Pflegegeld beantragen, wenn er mit dem Pflegegeld und dessen Umfang entsprechend die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung selbst sicherstellt (§ 37 Abs. 1 Satz 1, 2 SGB XI). Leistungen nach der Pflegestufe 3 erhalten Personen, welche die pflegerischen und zeitlichen Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 sowie Abs. 3 Nr. 3 SGB XI erfüllen (§§ 36 Abs. 3 Nr. 3,37 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 SGB XI).
Schwerstpflegebedürftige sind demnach Personen, die Hilfe bei der Körperpflege, der Ernährung und/oder der Mobilität (§ 14 Abs. 4 Nrn 1 bis 3 SGB XI – so genannte Grundpflege) täglich rund um die Uhr, auch nachts, und zusätzlich mehrfach in der Woche bei der hauswirtschaftlichen Versorgung (§ 14 Abs. 4 Nr. 4 SGB XI) benötigen; der gesamte Pflegebedarf muss mindestens fünf Stunden, die Grundpflege davon mindestens vier Stunden betragen.
a) Das LSG ist von einem unzutreffenden Begriff des nächtlichen Hilfebedarfs ausgegangen. Zu der Frage, wann ein solcher Bedarf vorliegt, hat der Senat bereits mehrfach Stellung genommen. In inzwischen ständiger Rechtsprechung (vgl. Urteile vom 19. Februar 1998, B 3 P 7/97 R = BSG SozR 3-3300 § 15 Nr. 1 = NZS 1998,479; B 3 P 2/97 R und B 3 P 6/97 R, beide nicht veröffentlicht, und zuletzt Urteil vom 17. Mai 2000, B 3 P 20/99 R, zur Veröffentlichung vorgesehen) hat er entschieden, dass ein Pflegebedarf „rund um die Uhr, auch nachts“ als Voraussetzung für die Zuordnung eines Pflegebedürftigen zur Pflegestufe 3 gegeben ist, wenn – entsprechend den Vorgaben in den „Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches“ vom 21. März 1997, Abschnitt D, Teil 1.4. (BRi – abgedruckt in: Hauck/Wilde, SGB XI, Stand Februar 2000, C 410) ein nächtlicher Pflegebedarf für zumindest eine der in § 14 Abs. 4 Nrn 1 bis 3 SGB XI aufgeführten Verrichtungen der Grundpflege entsteht; der nächtliche Hilfebedarf muss dabei grundsätzlich jede Nacht auftreten; soweit an wenigen einzelnen Tagen im Laufe eines Monats eine solche Hilfe nicht geleistet werden muss, ist dies unschädlich (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 10 sowie § 15 Nrn 1 und 5). Wie im Urteil vom 18. März 1999 – B 3 P 3/98 R (BSG SozR 3-3300 § 15 Nr. 5) entschieden, findet eine Hilfeleistung „nachts“ statt, wenn sie zwischen 22 Uhr abends und 6 Uhr morgens objektiv erforderlich ist, die Hilfe also nicht auf einen Zeitpunkt vor 22 Uhr und/oder nach 6 Uhr verlegt werden kann. Dabei ist es – entgegen den BRi, Abschnitt D, Teil 1.4. – nicht zusätzlich erforderlich, dass die Pflegeperson für die Hilfeleistung ihren Nachtschlaf unterbricht (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 10 und § 15 Nr. 5 sowie Urteil vom 17. Mai 2000, B 3 P 20/99 R – zur Veröffentlichung vorgesehen). Eine bloße Ruf- und Einsatzbereitschaft reicht allerdings, ebenso wie bei der tagsüber zu leistenden Grundpflege (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 5, 6 und 8; Urteil vom 19. Februar 1998 – B 3 P 6/97 R – nicht veröffentlicht), auch hier nicht aus. Andererseits steht nicht entgegen, wenn die nächtliche Hilfe jeweils zu einem vorher feststehenden Zeitpunkt zu leisten ist, sie also nicht zu unvorhergesehenen, verschiedenen Zeitpunkten anfällt. So hat der Senat einen nächtlichen Hilfebedarf bejaht, wenn die Pflegeperson den an Inkontinenz leidenden bettlägerigen Pflegebedürftigen einmal in jeder Nacht zwischen 23.30 Uhr und 24.00 Uhr aufsuchen muss, um ihn auf den Toilettenstuhl zu setzen, sonstige nächtliche Grundpflegemaßnahmen aber regelmäßig nicht geleistet werden (BSG SozR 3-3300 § 15 Nr. 5 – vgl. zum Ganzen auch zuletzt Urteil vom 17. Mai 2000, B 3 P 20/99 R – zur Veröffentlichung vorgesehen). Eine Pflege „rund um die Uhr“ ist auch dann zu bejahen, wenn zwischen zwei erforderlichen Hilfen eine größere Zeitspanne ohne regelmäßigen Hilfebedarf, etwa von siebeneinhalb Stunden (BSG aaO), liegt.
Die vom LSG vertretene Auffassung, maßgeblich seien (auch) bei der Nachtruhe die individuellen Lebensgewohnheiten des Pflegebedürftigen, soweit diese innerhalb der gesellschaftlich allgemein anerkannten Verhaltensnormen lägen, hat der Senat bereits mehrfach abgelehnt. Das LSG hat keine neuen Argumente aufgezeigt; es besteht daher keine Veranlassung, die Richtigkeit dieser Rechtsprechung des Senats zu überprüfen.
Nach der Rechtsprechung des Senats würde es – im Gegensatz zur Auffassung des LSG – genügen, wenn die Klägerin regelmäßig erst deshalb „zwischen 22 und 23 Uhr“ zu Bett gebracht werden konnte und kann, weil in der Zeit nach 22 Uhr noch Hilfeleistungen, insbesondere beim Toilettengang oder beim Trinken, erforderlich sind. Dabei würden Gründe allein in der Person der pflegenden Angehörigen, selbst solche zwingender – etwa beruflicher – Art, allerdings nicht ausreichen (vgl. Urteil des Senats vom 18. März 1999 – B 3 P 3/98 R = SozR 3-3300 § 15 Nr. 5).
Zu diesen Fragen hat das LSG keine Feststellungen getroffen und wird dies daher noch nachzuholen haben. Wäre ein Umstellen auf ein Zu-Bett-Bringen, einschließlich des letzten Toilettenganges, bis 22 Uhr möglich, ohne dass bis 6 Uhr morgens weitere Hilfeleistungen erforderlich würden, würde ein Anspruch auf Pflegeleistungen der Pflegestufe 3 entfallen. Andererseits würde selbst der lange, einen ausreichenden Schlaf der Pflegeperson an sich ermöglichende Zeitraum zwischen 22/23 und 7/8 Uhr allein das Vorliegen einer Hilfebedürftigkeit „rund um die Uhr, auch nachts“ nicht ausschließen.
Die genannten Feststellungen des LSG sind nicht deswegen entbehrlich, weil die Klägerin, wie die Revision geltend macht, zumindest objektiv einen nächtlichen Hilfebedarf im Sinne der Pflegestufe 3 hat, der über die tatsächlich geleistete Pflege hinausgeht. Es kann offen bleiben, ob ein solcher objektiver Pflegebedarf einen Anspruch auf (höheres) Pflegegeld begründen könnte, wenn die tatsächlich geleistete Pflege unzureichend ist (vgl. dazu Urteil des Senats vom 19. November 1997, 3 RK 2/ 97 = SozR 3-2500 § 53 Nr. 11; ferner Irsching, SGB XI, 2. Auflage 2000, § 37 RdNr. 7). Das ist hier nämlich nicht der Fall. Das LSG hat ein Wund sein oder einen Dekubitusdefekt, ein mehr als gelegentliches Einnässen der Bettwäsche oder eine unzureichende Trinkversorgung der Klägerin nicht festgestellt. Der Klägerin kann ein nächtlicher Hilfebedarf auch nicht allein deshalb zugestanden werden, weil weitere nächtliche Hilfe beim Toilettengang nur wegen der Windelversorgung für einen Zeitraum von ca. 8 – 9 Stunden unterbleiben kann. Auch darin liegt kein pflegerisches Defizit. Die Versorgung eines inkontinenten Menschen mit Windeln verstößt nicht gegen die Würde des Menschen im Sinne von Art. 1 GG, ist nicht körperlich unzumutbar und kein Verstoß gegen das Recht auf Selbstbestimmung des Pflegebedürftigen (§ 2 Abs. 1 SGB XI) oder den Grundsatz der möglichst lange aufrecht zu erhaltenden – vorrangigen – häuslichen Pflege (§ 3 SGB XI). Die Versorgung mit Windeln ist in der Pflegeversicherung bei Inkontinenz ebenso zumutbar wie im Schwerbehindertenrecht (vgl BSG, Urteil vom 12. Februar 1997, 9 RVs 2/96 = SozR 3-3870 § 4 Nr. 17, sowie vom 9. August 1995, 9 RVs 3/95 und vom 11. September 1991, 9a RVs 1/90, – beide nicht veröffentlicht anders nur bei bettlägerigen Pflegebedürftigen mit erhaltener Kontinenz, vgl. BSG, Urteil vom 31. August 2000 – B 3 P 14/99 R – zur Veröffentlichung vorgesehen). Die Versorgung von inkontinenten Pflegebedürftigen mit Windeln und ähnlichen Inkontinenzartikeln gehört zum Standard der Pflege, wenn ein Wechsel der eingenässten Windeln so rechtzeitig erfolgt, dass Wundliegen und Dekubitusfolgen vermieden werden.
Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass eine ständige Ruf- und Einsatzbereitschaft der Pflegeperson, die hier im Hinblick auf die Möglichkeit epileptischer Anfälle vorgetragen worden ist, nicht ausreicht (stRspr, vgl. BSG SozR 3-3300 § 15 Nr. 1; § 14 Nr. 3, 4, 5, 6, 8 sowie zuletzt Urteil des Senats vom 17. Mai 2000, B 3 P 20/99 R, zur Veröffentlichung vorgesehen) – anders als ein Kontrollbesuch (vgl. Urteile des Senats vom 18. März 1999, B 3 P 3/98 R = SozR 3-3300 § 15 Nr. 5 und vom 29. April 1999, B 3 P 7/98 R = SozR 3-3300 § 14 Nr. 10), soweit er erforderlich ist, um festzustellen, ob Hilfe bei einer Grundverrichtung geleistet werden muss. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben. (Bundessozialgericht, 31.8.2000, B 3 P 16/99 R)