Die Jahresabschlussanalyse dient dem Zweck, einem Unternehmen vertiefte Einblicke in seine gegenwärtige und zukünftige Ertrags-, Finanz- und Vermögenslage zu gewähren. Sie generiert damit sekundäre Irrformationen aus den primären Informationen des Jahresabschlusses und beinhaltet im Gegensatz zum Jahresabschluss immer auch eine interpretierende Kompetente. Teilweise greift eine Jahresabschlussanalyse auch auf Rohdaten zurück, die im Jahresabschluss selbst gar nicht oder nur teilweise enthalten sind (zum Beispiel aus der internen Rechnungslegung). Ebenso trägt die Jahresabschlussanalyse im Gegensatz zum Jahresabschluss eher Züge einer Erfolgsrechnung, die Impulse für die Unternehmenssteuerung liefern soll. Aus diesem Grund basiert die Jahresabschlussanalyse in weiten Teilen auf Kennzahlen, die auf unterschiedliche Art und Weise im Sinne einer Erfolgsrechnung interpretiert und instrumentalisiert werden können.
Unter einer Kennzahl soll eine quantitative Größe zur Bewertung der Ertrags-, Finanz- oder Vermögenslage oder anderer branchen- oder unternehmensindividueller Erfolgsgrößen verstanden werden. In der Regel werden dabei relative Größen bevorzugt, die eine Erfolgsgröße A in Relation zu einer Kapazitätsgröße B betrachten, also letztlich der Quotient A/B. In Einzelfällen werden auch Absolutgrößen als Kennzahlen bezeichnet, hier sind jedoch Vergleichbarkeit und Interpretierbarkeit stark eingeschränkt.
Bei einem reinen Soll-/Ist-Abgleich werden die gefundenen Kennzahlenwerte (Istwerte) mit zuvor gesteckten Zielen (Sollwerte) verglichen. Alternativ können auch Vergleiche mit Vergangenheitswerten oder – soweit möglich – entsprechenden Zahlenwerten anderer Unternehmen (Konkurrenzvergleich) vorgenommen werden. In allen Fällen erhält die Unternehmensführung eine Möglichkeit zur Identifizierung und Analyse eigener Stärken und Schwächen, was wiederum Impulse für die künftige Unternehmensplanung liefert.
Möglichkeiten der Interpretation von Kennzahlen
Die Kennzahlendarstellung in unserem Versicherung-Ratgeber unterscheidet drei Arten von Kennzahlen, die sich in der Regel aus Bilanz, GuV, Anhang und Lagebericht ermitteln lassen. Von zentraler Bedeutung sind dabei die Sicherheits- und Erfölgskennzahlen, erlauben sie doch eine mehr oder minder direkte Abbildung zentraler finanzwirtschaftlicher Unternehmensziele im Versicherungsunternehmen. Der Erreichungsgrad bei Wachstumszielen wird durch Wachstumskennzahlen abgebildet; auch diese Kennzahlen geben indirekt Auskunft über die Sicherheitslage, da größere Unternehmen in der Versicherungswirtschaft grundsätzlich von einer breiteren Risikostreuung profitieren.
Die beschriebenen Kennzahlen können zu geeigneten Kennzahlenkatalogen zusammengeführt werden, die das Versicherungsunternehmen in seiner Gesamtheit darstellen. Beispiele für solche Kennzahlenkataloge sind der PKV-Kennzahlenkatalog des PKV-Verbandes oder der Kennzahlenkatalog des GDV zur Lebensversicherung. Einige Kennzahlen, die speziell eine Wertorientierung der Unternehmensführung im Rahmen eines Shareholder Value-Ansatzes ermöglichen, werden separat in diesem Versicherung-Artikel beschrieben. Diese Kennzahlen zielen im Gegensatz zu den Kennzahlen in unserem Versicherung-Ratgeber bewusst auf eine Abbildung des Gesamtunternehmenserfolges in einem Zahlenwert, der eine wertorientierte Unternehmenssteuerung ermöglichen soll.
In jüngerer Vergangenheit wird die Jahresabschlussanalyse auch vermehrt als Instrument des Risikomanagements angesehen. Eine zentrale Größe spielt hierbei der Solvabilitätsbegriff, der eine ausreichende Reservenbildung bei Versicherungsunternehmen fordert. Dieses wichtige Instrument der Versicherungsaufsicht ist eine direkte Folge der Angleichung der europäischen Aufsichtssysteme.
Kennzahlen zur Sicherheitslage
Die Sicherheitslage eines Versicherungsunternehmens beschreibt, welchen Zielerreichungsgrad das Unternehmen bei seinen Sicherheitszielen erlangt hat bzw. in näherer Zukunft erlangen wird. Für ein Versicherungsunternehmen bedeutet dies, dass das Unternehmen langfristig in der Lage sein muss, allen Verbindlichkeiten in der zugesagten Höhe nachzukommen. Die Verbindlichkeiten auf der Passivseite der Bilanz entsprechen dabei überwiegend versicherungstechnischen Verbindlichkeiten (Rückstellungen für künftige Ablaufleistungen, Rentenzahlungen, Schadenzahlungen etc.), denen Kapitalanlagen auf der Aktivseite gegenüberstehen.
Um die so charakterisierte langfristige Sicherheitslage zu verbessern, kann ein Versicherer grundsätzlich folgende Maßnahmen ergreifen:
• Abschluss umfassender Rückversicherungsabkommen,
• Bildung von Reserven, um unerwartet hohen Liquiditätsanforderungen (zum Beispiel infolge eines Kumulschadens) kurzfristig begegnen zu können,
• Umsetzung einer eher konservativen Kapitalanlagestrategie zur Verminderung des Kapitalanlagerisikos,
• Einleitung von Maßnahmen zur Kostenreduktion und zur Verminderung der Versicherungsschäden.
Aus diesen Maßnahmen lassen sich direkt Kennzahlen zur Beschreibung der Sicherheitslage im Versicherungsunternehmen ableiten:
• Die Rückversicherungsquote RVQ ist definiert gemäß
RVQ = 100% • (Abgegebene Rückversicherungsbeiträge) / (Gebuchte Bruttobeiträge) und gibt an, in welchem Maße ein Versicherer die Risikoteilung mithilfe von Rückversicherern in Anspruch nimmt. Eine niedrige RVQ deutet darauf hin, dass der Versicherer bei größeren Einzelschäden oder Kumulschäden für große Teile des Schadens selbst aufkommen muss, was im Extremfall zu Liquiditätsproblemen führen kann.
• Die Eigenkapitalquote EKQ betrachtet das Eigenkapital in Relation zu den verdienten Beiträgen für eigene Rechnung:
EKQ = 100% • (Eigenkapital) / (Verdiente Beiträge f.e. R.)
Die verdienten Beiträge f.e.R. fungieren dabei als Größenparameter für den Gesamtgeschäftsumfang des Versicherungsunternehmens. Eine hohe EKQ deutet darauf hin, dass unerwartet hohe Liquiditätsanforderungen gegebenenfalls durch einen Rückgriff auf das Eigenkapital aufgefangen werden können. Da der Rückversicherer Teile des versicherten Risikos trägt, wird die EKQ meist auf die verdienten Beiträge für eigene Rechnung bezogen (vgl. etwa Kennzahlenkatalog des PKV-Verbandes).
• Speziell in der Lebens- und Krankenversicherung spielt die RfB-Quote (RQ) eine wichtige Rolle:
RQ = 100% • (RfB) / (Verdiente Beiträge f.e. R.)
RQ ist ein Maß für die langfristige Überschusskraft des Versicherungsunternehmens, gibt also insbesondere an, inwieweit ein Lebens- bzw. Krankenversicherer in der Lage ist, eine einmal gewährte Überschussbeteiligung auch längerfristig zu bieten.
• Die Quote stiller Reserven QSR gibt an, in welchem Umfang das Versicherungsunternehmen über stille Reserven relativ zu seinen bilanziell ausgewiesenen Kapitalanlagen verfügt (KA := Kapitalanlagen zum Bilanzstichtag):
QSR = 100% • (Zeitwert KA – Buchwert KA) / (Buchwert KA)
Ein negativer Zahlenwert von QSR zeigt stille Lasten an, ein Zahlenwert von etwa 100% bedeutet, dass
Zeitwert KA 2 • (Buchwert KA),
die Kapitalanlagen des Versicherers zum Bilanzstichtag also gut doppelt so viel wert sind wie in der Bilanz ausgewiesen.
• Im weiteren Sinne kann auch die Aktienquote AQ als Sicherheitskennzahl interpretiert werden, da sie letztlich die Volatilität des Kapitalanlageportfolios des Versicherungsunternehmens misst:
AQ = 100% • (Buchwert Aktien) / (Buchwert KA)
Eine hohe Aktienquote nahe der gesetzlichen Höchstgrenze deutet darauf hin, dass sich der Zeitwert der Kapitalanlagen kurzfristig stark ändern kann (bilanziell gesprochen: der Zeitwert der Aktivseite ist erheblichen Schwankungen unterworfen). Hierdurch kann das Versicherungsunternehmen bei unveränderten Verbindlichkeiten (sprich: der Zeitwert der Passivseite bleibt unverändert) in finanzielle Schwierigkeiten geraten.
• Die Combined Ratio CR (kombinierte Schadenkostenquote) wird vor allem in der Schaden- und Unfallversicherung betrachtet und stellt den während des Geschäftsjahres angefallenen Aufwendungen für Versicherungsschäden die für den Versicherungsbetrieb gebuchten Bruttobeiträge gegenüber:
CR = 100% • (Aufw. f. Versicherungsschäden und Versicherungsbetrieb) / (Gebuchte
Bruttobeiträge)
Ein Zahlenwert CR > 100% impliziert, dass die gebuchten Bruttobeiträge allein nicht ausreichen, um die Aufwendungen für Versicherungsschäden und den Versicherungsbetrieb zu decken. Aufgrund der nicht in CR berücksichtigten Kapitalerträge befindet sich das Versicherungsunternehmen damit nicht notwendigerweise in Zahlungsschwierigkeiten, dennoch deutet CR > 100 % mittelfristig auf ein gewisses Missverhältnis zwischen Erträgen und Aufwendungen hin. Die Combined Ratio kann im Rahmen einer wirtschaftlichen Erfolgsrechnung weiter differenziert werden.
Ein weiterer wichtiger Indikator für die Sicherheitslage im Versicherungsunternehmen ist der recht komplizierte Solvabilitätsbegriff. Aufgrund seiner aufsichtsrechtlichen Bedeutung wird dieser Begriff separat in diesem Versicherung-Artikel diskutiert.