Diese Vorgänge vor etwa 100 Jahren sind die Ursache allen Übels und aller Missstände in unserem Versicherungswesen. Sie sind die Ursache für die Unwissenheit der Verbraucher, für deren schlechte Absicherung und für falsche Versicherungsgesetze, durch die den unwissenden Versicherten auch noch wesentliche Rechte, sogar Grundrechte, genommen worden sind. Die Aktiengesellschaften machten dagegen – ohne Wettbewerb und Kostendruck – ungerechtfertigte Gewinne, indem sie Versichertengeld verschwendeten, missbrauchten und veruntreuten. Um dieses Gewinnparadies abzusichern, mussten sie die für das Versicherungswesen verantwortlichen Politiker als Gesetzgeber bei der Stange halten. Dabei halfen wieder die Versichertenmilliarden – so DER SPIEGEL:
Staatsanwälte ermitteln gegen Versicherungskonzerne und -verbände, auf deren Spendenlisten weit über hundert Politiker stehen, darunter die meisten Minister des jetzigen Bundeskabinetts. Allein bei der Bundestagswahl 1976 wurden vom Arbeitskreis Private Versicheren 106 Kandidaten unterstützt, darunter der jetzige Bundespräsident (Weizsäcker). Gezahlt wurde bevorzugt an Einzelpersonen, deren Wohlwollen sich die Unternehmen sichern wollten. Die Staatsanwälte haben sich mit Millionensummen zu befassen, mit denen eine Reihe der größten Versicherungskonzerne Einfluss auf die Bonner Politik zu nehmen versucht. Ermittlungen laufen gegen den Präsidenten des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft.
Erkennbar geworden ist ein ausgeklügeltes, durch strenge Geheimhaltung abgeschirmtes System politischer Rückversicherung, mit dem die Großen der Branche seit Jahrzehnten ihre politischen Interessen zu wahren versuchen. Die Assekuranz hatte Vertrauensleute in allen Bundestagsfraktionen platziert: Ab-geordnete, die Gesprächspartner für gesetzgeberische Details benennen konnten und die auch mal Besucher für einen der regelmäßig von den Versicherern veranstalteten parlamentarischen Abende in Bonn zusammentrommelten.
Die Spendenadressaten mussten bereit sein, Stellungnahmen der Versicherungswirtschaft zu einzelnen Gesetzgebungsvorhaben als Beiträge zur Meinungsbildung aufzunehmen. Vom Geldempfänger werde lediglich erwartet, dass er bereit sei, im Zuge der parlamentarischen Beratung anstehender Gesetzgebungsvorhaben unseren Sachvortrag anzuhören und ihn zu würdigen, gegebenenfalls uns (die Lobby) zu beraten. In kaum einer Branche ist das Gesetz des Marktes so sehr außer Kraft gesetzt wie in der Assekuranz. Die Versicherungswirtschaft hat es geschafft, dass der Gesetzgeber ihre Pfründe bis ins Detail schützt.
Kommentar der Wirtschaftswoche: Von Bonner Politikern, die kräftig Wahlkampfkostenhilfe von der Assekuranz kassieren, haben die Versicherungskunden wohl ähnlich viel Unterstützung zu erwarten wie in der Vergangenheit – wenig. Und DIE ZEIT schrieb: So wundert es nicht, dass der Geschäftsführer des Bundes der Versicherten, nach der jüngst bekannt gewordenen Spendenaffäre den Bonner Gesetzemachern gleich das Schlimmste unterstellte: erkaufte Untätigkeit
Natürlich wissen die Branchenfunktionäre, dass ein Abgeordneter in der Regel nicht gegen sein Gewissen handelt. Den Funktionären ist aber auch bewusst, dass Wissen und Gewissen machbar sind. Also ist die Devise ganz einfach:
Man muss nur den Gesetze machenden Politikern ein falsches Wissen beibringen und sie machen guten Gewissens entsprechend falsche Gesetze. Dabei halfen und helfen immer noch brancheneigene Wissenschaftler. Wenn dann auch noch Spenden und andere finanzielle Zuwendungen ein wenig nachhelfen, ist das Ergebnis am Ende eine mentale Korruption des Gesetzgebers, die sich im Ergebnis nicht wesentlich von der finanziellen Korruption (Bestechung) unterscheidet. So erstaunt es nicht, wenn ein Bundesminister der Justiz meinte: Die Versicherungsunternehmen und der Gesamtverband leben seit langem mit meinem Hause in friedlicher Koexistenz. Und sein Kollege, ein Bundesminister der Finanzen (dem Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen übergeordnet) hat geäußert: Staat und Versicherungswirtschaft sind in den hinter uns liegenden Jahren recht gut miteinander ausgekommen. Es könnte übrigens bei Dritten der Verdacht aufkommen, dass hier Verständnis zu Lasten der Versicherten geschaffen werde.
Dieses Verständnis beschrieb die Zeitschrift für Versicherungswesen in einem Bericht über eine Tagung der Branche: Der Staatssekretär aus dem Bundesfinanzministerium hatte den Lebensversicherern so viel Positives zu sagen, dass die zur Schau gestellte Gemeinsamkeit schon fast peinlich wirkte. Das klang nach Komplizenschaft zwischen öffentlicher Hand und Versicherern. Fast konnte man denken, es bestehe ein heimliches Komplott zwischen Fiskus und Lebensversicherern. Die einen beschaffen über langfristige Versicherungsverträge das Kapital und die anderen bedienen sich daraus.
Diese Abhängigkeit des Staates von der Branche ist in zweierlei Hinsicht gegeben: Einmal braucht der Staat selbst Kredite. Er ist der größte Schuldner der Versicherungsgesellschaften, deren Oberaufseher er ist. Zum anderen wollen Regierungen auch den Wirtschaftsunternehmen günstige Finanzmittel verschaffen. Auch dafür muss das von den Versicherten langfristig bereitgestellte Geld herhalten. Die Kreditvergabe an Staat und Wirtschaft erfolgt auf einem völlig überflüssigen Umweg über Versicherungsunternehmen, der den Versicherten nur Verluste bringt. So erzielten die Gesellschaften Renditen aus der Anlage von Versichertengeld von acht bis zehn Prozent. Bei den Versicherten kamen aber nur fünf bis sechs Prozent an – das heißt, ein Großteil blieb bei den Versicherungsunternehmen hängen. Würden die Versicherten ihr Spargeld direkt an den Staat verleihen oder sich an Wirtschaftsunternehmen beteiligen, wären ihre Renditen also wesentlich höher als bei den Versicherungsunternehmen. Sie lägen zwischen sieben und zehn Prozent.
Professor Wolfram Engels schrieb im Jahre 1991 in einem seiner Kommentare in der Wirtschaftswoche: Lebensversicherungen bringen eine Rendite von gut fünf Prozent. Über dieselben Fristen hätte ein privater Anleger, der sein Geld wie eine Versicherungsgesellschaft anlegt, eine Rendite von acht bis zehn Prozent erzielt. Natürlich würde unter diesen Bedingungen kein rational Handelnder eine Kapital-Lebensversicherung abschließen. Da trifft es sich gut, dass der Gesetzgeber zu Hilfe kommt: Die Erträge aus der Versicherung sind steuerfrei. Spätestens hier schlägt die Frage des Anlegerschutzes um; sie wird zum Problem der Moral. Die Abgeordneten im Deutschen Bundestag haben es über Jahrzehnte hinweg verstanden, den steuerehrlichen Anleger den Versicherungsgesellschaften in die Arme zu treiben, obgleich sie doch wissen mussten, dass dessen Ersparnisse dort schlecht angelegt sind. Cui bono? (Wem nutzt es? – Antwort: dem Staat und den Unternehmen, aber nicht den Bürgern!)
Die Gesetze machenden Politiker haben so dabei geholfen, dass die Bundesbürger ihr Geld in falsche Kanäle leiten, indem sie das unrentable Lebensversicherungssparen steuerlich gefördert haben. Diese Bevorzugung hat die Branche auch noch durch eine jahrelange Anzeigenkampagne ausgenutzt: Lebensversicherung ist neben der gesetzlichen und betrieblichen Rente die dritte Säule, auf der unser Versorgungssystem aufbaut. Ein ganzes Volk ist auf diese Lüge hereingefallen und legal um Hundertmilliarden betrogen worden. In Wahrheit ist die dritte Säule unseres Versorgungssystems die private Vorsorge, die man mit vielen anderen Geldanlagen besser betreiben kann – z. B. über Aktienfonds oder mit der Schaffung von Wohneigentum fürs Alter.
Das alles hat die Bundesregierungen bisher wenig interessiert, obwohl die wahrhaft primitive Vermögensbildung der privaten Haushalte in Deutschland auch mit dem geringen wirtschaftlichen Verständnis vieler Bundesbürger zu tun hat – und umgekehrt. Und dass die Versorgungslücken, die durch falsche Lebensversicherungen entstehen, für die akuten Probleme des Sozialstaates mitverantwortlich sind, scheint den Politikern noch gar nicht aufgefallen zu sein. Bei der Deregulierung des Versicherungswesens im Jahre 1994 hat der Gesetzgeber gravierende Fehler begangen und gesetzliche Regelungen geschaffen, die vermutlich die Branche selbst geschrieben hat. Eine Richtlinie der Europäischen Union fordert, dass die Verbraucher vor Vertragsabschluss über die wesentlichen Merkmale der Versicherungsangebote informiert werden müssen, damit sich der Interessent kundig machen, zwischen mehreren Angeboten – auch zwischen verschiedenen Geldanlagemöglichkeiten – wählen und selbst entscheiden kann. Aber – was machen hierzulande Gesetzgeber und Branche (offenbar Hand in Hand)?
Sie verlegen durch einen ominösen § 5a des Versicherungsvertragsgesetzes (WG) den Vertragsabschluss einfach hinter die Übergabe der Police, sodass die Unternehmen die Verbraucherinformation erst mit der Police erteilen können (wenn es zum Informieren und Vergleichen mit anderen Angeboten und Alternativen spät ist). Da die Branche weiß, dass viele ihrer Versicherungsbedingungen nichts taugen und bei einer gerichtlichen Kontrolle für unwirksam erklärt werden könnten, haben sie sich offenbar einen § 172 WG bestellt, wonach die Versicherungsgesellschaften schlechte Klauseln, die von den Gerichten für unwirksam erklärt worden sind, einfach ohne Zustimmung der Versicherten durch neue Klauseln ersetzen können.
Bei allen anderen Verträgen gilt, dass der Vertragspartner einer Neuregelung zustimmen muss oder bei einer Unwirksamkeit wesentlicher Klauseln sogar den gesamten Vertrag aufheben und alles von ihm Geleistete zurückfordern kann.
Fazit: Vom Staat und Gesetzgeber, von Regierungen und Politikern haben die Versicherten bisher keine Hilfe erhalten. Einen Hoffnungsschimmer hat die 1998 gewählte Bundesregierung gesetzt, indem Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung sagte: Bei den Lebensversicherungen werden wir für mehr Wettbewerb und mehr Transparenz sorgen. Und Frau Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin, die Bundesministerin der Justiz, schrieb in den Wertpapier-Mitteilungen (4/1999): Das Versicherungsvertragsgesetz aus dem Jahre 1908 ist längst veraltet. Deshalb nehmen wir in dieser Legislaturperiode endlich die in der Öffentlichkeit angemahnte Reform des Versicherungsrechts in Angriff. Die Ministerin hat auch im Jahre 2000 eine 20-köpfige Kommission eingesetzt, die Reformvorschläge machen soll. In dieser sitzt in Vertretung der Verbraucher nur die Vorsitzende des Bundes der Versicherten (BdV). Und so hat sich sehr schnell abgezeichnet, dass Branchenmeinungen und Brancheninteressen die Kommissionsarbeit bestimmen.