Begriff und gesetzliche Grundlagen
a) Begriff des vermuteten Verschuldens
Grundsätzlich hat der Geschädigte alle Voraussetzungen seines Anspruchs – eben auch das Verschulden – zu beweisen. Aber gerade der subjektive Tatbestand des Verschuldens ist häufig nur schwer zu beweisen. Deshalb hat der Gesetzgeber in einer Reihe von Fähen, in denen es ihm richtiger erschien, dem Geschädigten die Durchsetzung seiner Ansprüche zu erleichtern bzw. die Haftung des Verantwortlichen zu verschärfen, die Beweislast anders verteilt. Durch entsprechende Formulierungen in diesen Vorschriften hat der Gesetzgeber bestimmt, dass es nicht Sache des Geschädigten ist, das Verschulden des Schädigers zu beweisen, sondern dass dieses Verschulden, wenn die übrigen Voraussetzungen eines Schadenersatzanspruchs vorlegen, bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, d. h., der Schädiger selbst muss haftungsbefreiend beweisen, dass sein Verhalten nicht schuldhaft (sorgfaltswidrig) bzw. nicht ursächlich für den Schaden war.
b) Rechtsgrundlagen des vermuteten Verschuldens
Haftung des Gebäudebesitzers
Nach § 836 BGB haftet der Besitzer eines Bauwerkes für Personen- und Sachschäden, die durch Einsturz oder Ablösung von Bauteilen entstehen. Sein Verschulden wird vermutet, soweit der Geschädigte nachgewiesen hat, dass der Bau mangelhaft errichtet bzw. unterhalten wurde.
Bauwerke i. S. dieser Vorschrift sind u. a. auch Baugerüste, Grabsteine, Zäune, Mauern.
In gleicher Weise haftpflichtig sind u. a. auch der frühere Gebäudebesitzer sowie der Gebäudeunterhaltungspflichtige (z. B. der Hausverwalter).
Beispiel:
Während eines Sturms löst sich ein Dachziegel eines Gebäudes und fällt auf den Pkw eines Nachbarn.
War hier das Dach des Hauses mangelhaft errichtet bzw. unterhalten worden, sodass es dem heftigen Sturm nicht standhielt, kann der Nachbar Ersatz des ursächlich an seinem Pkw entstandenen Schadens verlangen (vermutetes Verschulden). Kann jedoch der Hausbesitzer nach weisen, dass er regelmäßig oder z. B. kurz vor dem Schadenereignis das Dach durch einen zuverlässigen Fachmann überprüfen und ausbessern ließ und dass der Mangel dennoch unbemerkt blieb, tritt keine Ersatzpflicht ein (Beweis des mangelnden Verschuldens). Gebäudeteile sind u.a. auch: Fensterläden, Dachziegel, Fernsehantennen; nicht dagegen Dachlawinen, von der Dachrinne abbrechende Eiszapfen bzw. herabstürzende Blumentöpfe. Es bleibt hier bei der allgemeinen Verschuldenshaftung wegen der Verletzung von Verkehrssicherungspflichten gemäß § 823 (1) BGB.
Haftung für Haustiere als Nutztiere
– Haftung für Nutztiere
Die Gefährdungshaftung des § 833 S. 1 BGB für Luxustiere wird abgemildert in eine Haftung für vermutetes Verschulden, wenn der Schaden durch ein Haustier verursacht wird, das dem Berufe, der Erwerbstätigkeit oder dem Unterhalte des Tierhalters zu dienen bestimmt ist. Man spricht dann von so genannten Nutztieren. Zu den Nutztieren gehören nach der Rechtsprechung u.a. das Zuchtvieh (Kühe, Schweine usw.), die Tiere des Viehhändlers und des gewerbsmäßigen Pferdezüchters, das Pferd des Jockeys, der Jagdhund des Försters (nicht des Privatjägers), der Blindenhund, der Wachhund, soweit letzterer nicht nur dem persönlichen Schutz bzw. der Bewachung eines Privathauses dient. Gezähmte wilde Tiere, auch wenn sie dem Unterhalt des Tierhalters dienen, z. B. dressierte Affen, sind keine Haustiere, sondern Luxustiere i.S. des § 833 Satz 1 BGB.
Beispiel:
Das Pferd eines gewerblichen Züchters scheut aufgrund der Alarmsignale mehrerer Feuerwehrautos und überrennt einen Radfahrer. Es entsteht erheblicher Personen- und Sachschaden.
Da es sich hier um ein Haustier handelt, das gleichzeitig als Nutztier dient, haftet der Tierhalter nur nach dem vermutbaren Verschulden, d.h., er haftet, soweit er nicht nachweisen kann,
• dass er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet hat (vereinfacht
ausgedrückt: Er haftet nicht, wenn er seine Aufsichtspflicht erfüllt hat.)
• oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt entstanden wäre.
Vermutetes Verschulden des Haftpflichtigen für fremdes Handeln
Grundsätzlich ist jeder nur für sein eigenes Handeln verantwortlich. Ausnahmsweise kommt jedoch auch eine Haftung für Schäden in Betracht, die von anderen Personen (fremdes Handeln) verursacht wurden. Dabei wird vermutet, dass den Haftpflichtigen auch ein Verschulden trifft, sodass es zur Schädigung durch eine andere Person kommen konnte.
Haftung des Aufsichtspflichtigen für Minderjährige und sonstige Schutzbefohlene
Wer seine Aufsichtspflicht über einen Aufsichtsbedürftigen verletzt, haftet für den Schaden, den diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt.
Aufsichtsbedürftig ist der Minderjährige sowie geistig oder körperlich Gebrechliche.
– Entstehung der Aufsichtspflicht
Die Aufsichtspflicht beruht auf
•Gesetz: Eltern, Betreuer, Lehrer, Ausbildender
Wenn Lehrer an öffentlichen Schulen ihre Aufsichtspflicht verletzen, haften sie aus Amtspflichtverletzung nach § 839 BGB. oder
•Vertrag: Kindermädchen, Internatsleiter usw.
Personen, die nur vorübergehend die Aufsicht für die Eltern ausüben, haften nicht nach § 832 BGB, wenn sie (z. B. die Großeltern) die Aufsicht nur aus Gefälligkeit übernehmen und der Wille zu einer vertragsrechtlichen Bindung fehlt. Allerdings kommt eine Haftung nach § 823 BGB infrage.
– Verletzung der Aufsichtspflicht
Die Eltern haften nicht in jedem Fall für ihre Kinder, wie oft fälschlicherweise angenommen wird. Aufsichtspflichtige haften nur für eigenes Verschulden. Ihr Verschulden wird aber in zweifacher Hinsicht vermutet:
•Es wurde der Aufsichtspflicht nicht genügt.
•Die ungenügende Aufsicht hatte den Schaden zur Folge.
Beispiel:
Der 6-jährige A und der 15-jährige B veranstalten mit ihren Fahrrädern auf einem öffentlichen Parkplatz Slalomfahrten. Bei einem Sturz des A wird ein geparkter Pkw beschädigt.
Kann sich der Aufsichtspflichtige von dem Schuldvorwurf nicht entlasten bzw. beweisen, dass der Schaden auch bei ordentlicher Aufsichtsführung entstanden wäre, so haftet er dem Geschädigten.
Unabhängig von einer Haftung des Aufsichtspflichtigen kann auch der deliktsfähige Minderjährige schadenersatzpflichtig sein. Ist dies der Fall, so haften die Eltern und der Minderjährige als Gesamtschuldner.
Die Rechtsprechung stellt strenge Anforderungen an die Aufsichtspflicht. Was jeweils an Aufsicht notwendig ist, hängt von den Umständen des konkreten Einzelfalls ab,
• insbesondere vom Alter, den Charaktereigenschaften (z. B. der Neigung des
Minderjährigen zur Schädigung anderer, etwa durch üble Streiche), der geistigen
Entwicklung und dem Bildungsgrad des Aufsichtsbedürftigen;
Eine Verletzung der Aufsichtspflicht liegt vor, wenn ein 4-jähriges Kind, das in einem geparkten Kfz an einer Bundesstraße allein zurückgelassen wird, später die Handbremse löst und dadurch einen Unfall verursacht.
• aber auch von der Art der Gefahr, wie das Benutzen von gefährlichem Spielzeug (z.
B. Pfeil und Bogen) oder der Besitz gefährlicher Gegenstände (z. B. Streichhölzer).
Ein 12-Jähriger kaufte sich ohne Wissen der Eltern einen Wurfpfeil. Wochen später auf einem Spielplatz passierte es. Ein anderer Junge entriss dem 12-Jährigen den Wurfpfeil und traf dabei ein Mädchen so unglücklich, dass es ein Auge verlor. Haftpflichtig waren hier nicht die Eltern des Jungen, der geworfen hatte, sondern die Eltern des 12-Jährigen, denn sie hätten nicht dulden dürfen, dass ihr Junge mit derart gefährlichem Spielzeug umgeht. Eltern müssen eben einen groben Überblick darüber haben, was, womit und mit wem die Kinder spielen.
– Grenzen der Aufsichtspflicht
Der Umfang der Aufsichtspflicht hängt schließlich auch davon ab, was den Aufsichtspflichtigen in ihren jeweiligen Verhältnissen zugemutet werden kann.
Von einer Mutter, die mit ihren beiden Kindern im Alter von zwei bzw. drei Jahren einkaufen geht, kann nicht verlangt werden, dass sie die Kinder ständig an der Hand hält. Es genügt, wenn die Kinder in ihrem Einwirkungsbereich sind. Gerichtlich ist auch geklärt, dass Kinder im Alter von 8 Jahren unbeobachtet im Freien spielen dürfen, wenn sie entsprechend belehrt, gefährliche Spiele verboten und die Einhaltung des Verbotes auch immer wieder überprüft wurde. Je älter, je einsichtiger die Kinder sind bzw. je höher der Erziehungserfolg ist, desto geringer sind auch die Anforderungen an die Aufsichtspflicht.
Aufsichtspflicht hat Grenzen
FRANKFURT/MAIN (dpa). Die Aufsichtspflicht der Eltern über ihre Kinder hat Grenzen. Sie muss sich daran orientieren, was den Eltern zugemutet werden kann. Mit dieser Begründung hat das Amtsgericht Frankfurt eine Schadenersatzklage gegen einen Vater abgewiesen, dessen sechsjährige Tochter beim Radfahren ein parkendes Auto beschädigt hatte (Az.: 31 C 3755/99-13). Der Kläger wollte den Schaden von 1100 Euro voll ersetzt haben, weil der Vater angeblich seiner Aufsichtspflicht nicht nachgekommen war. Das Gericht dagegen entschied, der Vater habe den vernünftigerweise zu stellenden Anforderungen genügt. Die Sechsjährige sei eine sichere und vorsichtige Radfahrerin, die schon oft allein mit dem Rad unterwegs gewesen sei, ohne jemals Schaden anzurichten. Gegen das Fahrzeug des Klägers sei das Mädchen versehentlich gefahren. Ein solcher Unfall sei für den Vater, der sich in der Nähe befand und das Kind gelegentlich beobachtete, nicht vorhersehbar gewesen, entschieden die Richter. Der Vater habe nicht gegen die Aufsichtspflicht verstoßen.
Haftung des Geschäftsherrn für den Verrichtungsgehilfen
Im Bereich der Deliktshaftung musste der Gesetzgeber auch bedenken, dass Hilfspersonen eingeschaltet werden und Dritte von diesen Hilfspersonen geschädigt werden können. Die entsprechende rechtliche Vorsorge hat er in § 831 BGB formuliert:
Wer einen anderen zu einer Verrichtung bestellt, ist zum Ersätze des Schadens verpflichtet, den der andere in Ausführung der Verrichtung einem Dritten widerrechtlich zufügt. . .
Beispiel:
Der selbstständige Dachdeckermeister D beauftragt seinen Gesellen G, das Dach des Hauseigentümers H auszubessern. Bei den Reparaturarbeiten rutscht dem Gesellen ein Stapel Dachziegel aus der Hand und fällt auf die Straße. Dort verursacht er den Sturz eines Radfahrers. Der Geselle hatte es unterlassen, den unmittelbar am Haus vorbeiführenden Bürgersteig zu sperren. Sein Chef, der Dachdeckermeister, hatte ihm zuvor auch keine näheren Arbeitsanweisungen erteilt. Im Übrigen war der Geselle erst vor einigen Tagen eingestellt worden, ohne dass D als Chef Zeugnisse verlangt oder Erkundigungen eingeholt hätte.
Der Dachdeckermeister D ist hier Geschäftsherr und sein Geselle G die zur Verrichtung bestellte Person (Verrichtungsgehilfe). Der geschädigte Radfahrer ist der Dritte. Dieser Dritte kann den Dachdeckermeister D als Geschäftsherrn schadenersatzpflichtig machen, obwohl D im vorliegenden Fall keine vertraglichen Schutzpflichten dem Geschädigten gegenüber zu erfüllen hat. Als Geschäftsherr haftet D hier außervertraglich aus unerlaubter Handlung.
– Voraussetzungen einer außer vertraglichen Haftung für fremdes Handeln gemäß § 831 Abs. 1 Satz 1 BGB
• Der Schädiger muss in einem Abhängigkeitsverhältnis (weisungsgebunden) zur
Verrichtung bestellt worden sein.
Das trifft grundsätzlich auf alle Arbeitnehmer im Rahmen ihres Arbeitsverhältnisses zu.
• Der Gehilfe muss eine unerlaubte Handlung i. S. von § 823 BGB begangen haben,
d.h., ein geschütztes Rechtsgut muss widerrechtlich verletzt worden sein.
• Die unerlaubte Handlung muss in Ausführung der Verrichtung begangen worden
sein.
Wurde der Schaden dagegen nur gelegentlich der Ausführung der Verrichtung zugefügt, also ohne inneren Zusammenhang mit der übertragenen Verrichtung, so entfällt eine Haftung nach § 831 BGB. Entnimmt der Geselle z. B. Tannenzapfen aus der Dachrinne, um damit seinen Kollegen auf der Straße zu bewerfen, und verletzt er dabei einen Radfahrer, so haftet hier nur der Geselle aus § 823 BGB und nicht der Geschäftsherr aus § 831 BGB.
– Ausschluss der außervertraglichen Haftung für fremdes Handeln (Entlastungsbeweis)
Gemäß § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB kann der Geschäftsherr die Verschuldensvermutung im Satz 1 dieser Vorschrift haftungsbefreiend widerlegen (Entlastungsbeweis), indem er nachweist,
• dass er den Verrichtungsgehilfen sorgfältig ausgewählt und gegebenenfalls mit
geeigneten Geräten versehen sowie ordnungsgemäß unterwiesen und laufend
überwacht hat oder
• dass der Schaden auch bei Anwendung dieser im Verkehr erforderlichen
Sorgfaltspflichten entstanden wäre.
Der Geschäftsherr haftet also nur für sein eigenes vermutetes Verschulden bei der Auswahl und Überwachung der Gehilfen, wenn er dieses Verschulden nicht widerlegen kann.
– Haftung des Verrichtungsgehilfen
Der Verrichtungsgehilfe (hier: der Geselle) ist für den von ihm angerichteten Schaden nach § 823 BGB ersatzpflichtig. Der Geschädigte könnte sich also statt an den Geschäftsherrn an den Verrichtungsgehilfen wenden (sog. konkurrierende Ansprüche). Den Gesellen wird der Geschädigte in jedem Falle in Anspruch nehmen müssen, wenn der Geschäftsherr den Entlastungsbeweis führen und sich so von der Haftung befreien kann.