a)Arten des Verschuldens bei der Anzeigepflichtverletzung
Den VN treffen nur dann Rechtsnachteile, wenn er die Obliegenheit schuldhaft verletzt hat. Allerdings hat der VN die Beweislast, dass ihn kein Verschulden trifft.
Grundsätzlich werden unterschieden:
Vorsatz
Der Vorsatz ist dadurch gekennzeichnet, dass man die Norm (hier die Anzeigepflicht) kennt und diese bewusst verletzt. Willen und Wissen sind gemeinsam erforderlich (sog. direkter Vorsatz).
Grobe Fahrlässigkeit
Diese bedeutet eine besonders schwere Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, bei der einfache, ganz nahe hegende Überlegungen nicht angestellt werden, die – im gegebenen Fall – jedermann einleuchten müssen.
Beispiel:
Der VN hat seine Lesebrille verlegt und lässt deshalb den Antrag von seinem 15- jährigen Sohn ausfüllen. Ohne die Richtigkeit der Eintragungen zu prüfen, unterschreibt er dann den Antrag.
Einfache Fahrlässigkeit
Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.
Beispiel:
Der VN verneint die Frage im Lebensversicherungsantrag, ob er in den letzten 5 Jahren wegen Beschwerden einen Arzt aufgesucht hat, da er annimmt, dass sein letzter Arztbesuch länger zurückliegt, zumal seine Frau dies auch so vermutet. Tatsächlich war er aber das letzte Mal vor etwas mehr als 4 Jahren beim Arzt, was er anhand alter Unterlagen bei entsprechender Sorgfalt hätte feststellen können.
b)Verletzungsfolgen in Abhängigkeit von der Art des Verschuldens
Grundsätzlich gilt, dass der VR Verletzungsfolgen nur dann geltend machen kann, wenn er den VN durch gesonderte Mitteilung in Textform auf die Folgen einer Anzeigepflichtverletzung hingewiesen hat.
Die möglichen Rechte des VR sind auch ausgeschlossen, wenn er den nicht angezeigten Gefahrumstand kannte oder die Unrichtigkeit der Anzeige kannte (siehe hierzu auch das Auge- und Ohr-Prinzip).
Rücktrittsrecht
Bei schuldhafter Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht kann der VR zurücktreten
•bei Vorsatz des VN;
•bei grober Fahrlässigkeit des VN unter folgender Voraussetzung:
Der VR hätte den Vertrag bei Kenntnis der nicht angezeigten Umstände, wenn auch zu anderen Bedingungen, geschlossen.
Für diesen Fall kann der VR verlangen, dass die anderen Bedingungen rückwirkend für den Vertrag gelten, der Vertrag also verändert bestehen bleibt.
Hat der VN die Pflichtverletzung nicht zu vertreten, werden die anderen Bedingungen erst ab der laufenden Versicherungsperiode Vertragsbestandteil.
Verlangt der VR, dass die anderen Bedingungen Vertragsbestandteil werden, hat der VN in folgenden Fällen ein Recht zur fristlosen Kündigung innerhalb eines Monats nach Zugang der Mitteilung des VR:
– Durch die Vertragsänderung erhöht sich die Prämie um mehr als 10%.
– Die Gefahrabsicherung für den nicht angezeigten Umstand wird durch die Vertragsänderung ausgeschlossen.
In der Krankenversicherung ist § 19 (4) VVG nicht anwendbar, wenn der VN die Anzeigepflichtverletzung nicht zu vertreten hat.
Wahrnehmungsfrist
Der Rücktritt kann nur innerhalb eines Monats erfolgen, gerechnet von dem Zeitpunkt an, in welchem der VR hiervon Kenntnis erhält (Klarstellungsprinzip).
Das Gesetz fordert vom VR, die Rechtslage bei einer Obliegenheitsverletzung klarzustellen. Der VR muss sich innerhalb eines Monats entscheiden, ob er von seinem Recht (z. B. Rücktritt bei vorvertraglicher Anzeigepflichtverletzung) Gebrauch machen will oder nicht (sog. Wahrnehmungsfrist). Ansonsten hätte der VR die Möglichkeit, bei einem späteren Versicherungsfall sich auf die Obliegenheitsverletzung zu berufen und ggf. Leistungsfreiheit zu bewirken.
Der Rücktritt erfolgt durch Erklärung gegenüber dem VN, bzw. nach dem Tod des VN ist der Rücktritt den Erben gegenüber zu erklären.
In der Lebensversicherung gilt nach dem Tode des Versicherten der Bezugsberechtigte bzw. Inhaber des Versicherungsscheines als Erklärungsempfänger des Versicherers.
Kündigungsrecht des VR
War die Anzeigepflichtverletzung weder vorsätzlich noch grob fahrlässig, also nur einfach fahrlässig, hat der VR das Recht, den Vertrag mit Einmonatsfrist zu kündigen.
In der Krankenversicherung ist das vorbeschriebene Kündigungsrecht ausgeschlossen, wenn der VN die Verletzung der Anzeigepflicht nicht zu vertreten hat.
Anfechtung
Liegt eine arglistige Täuschung durch den VN vor, hat der VR das Recht, den Vertrag anzufechten.
Arglist hegt vor, wenn zum Vorsatz noch die Täuschungs- und Bereicherungsabsicht tritt. Der VN muss mit der Möglichkeit gerechnet haben, dass die unrichtige Angabe die Entschließung des VR zum Vertragsabschluss beeinflussen werde. Liegt Arglist vor, so hat der VR das Recht, den Vertrag wegen arglistiger Täuschung über Gefahrumstände anzufechten. Die Anfechtung kann innerhalb eines Jahres seit Entdeckung der Täuschung und ihrer Arglist erklärt werden. Die Anfechtung ist ausgeschlossen, wenn seit Vertragsabschluss zehn Jahre verstrichen sind.
Die Anfechtung bei arglistiger Täuschung nach BGB gelingt dem VR in der Praxis allerdings recht selten, da hier in der Verschuldensfrage nicht der VN wie üblich die Beweislast hat, sondern der VR. Dieser hat den Nachweis zu führen, dass der VN nicht nur wissentlich, sondern sogar arglistig einen gefahrenerheblichen Umstand verschwiegen oder unrichtig angezeigt hat. Gelingt ihm dieser Nachweis nicht, bleibt dem VR nur der Rücktritt. Im oben angeführten Fall hätte das für den VR allerdings die Konsequenz, dass er mangels Kausalität leistungspflichtig wäre.
Leistungsfreiheit (Prüfung der Kausalität
Nur für den Fall, dass der VR ein Rücktrittsrecht hat und hiervon innerhalb der Wahrnehmungsfrist Gebrauch macht, kann Leistungsfreiheit in Betracht kommen.
Leistungsfrei ist der VR dann für den Fall, dass die Anzeigepflichtverletzung und der Versicherungsfall in einem kausalen Zusammenhang stehen.
Die Prüfung der Kausalität, die nach Eintritt des Versicherungsfalles zu erfolgen hat, ist auch hier ein Schutz für den VN; denn er soll seinen Entschädigungsanspruch nicht verlieren, wenn sich durch den tatsächlichen Verlauf gezeigt hat, dass der nicht oder unrichtig angezeigte Gefahrenumstand auf den Eintritt und Umfang des Schaden keinen Einfluss gehabt hat.
Es kommt nicht darauf an, ob der VR bei Kenntnis des verschwiegenen oder falsch mitgeteilten Umstandes das Risiko überhaupt übernommen hätte, sondern vielmehr darauf, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Gefahrenumstand und dem Eintritt und Umfang des Schaden besteht (Kausalitätsprinzip).
Hat der VN die Anzeigepflicht arglistig verletzt, ist der VR nicht zur Leistung verpflichtet.
Prämienanspruch des VR
Bei Rücktritt oder Anfechtung steht dem VR die Prämie (der Beitrag) bis zum Wirksamwerden der Rücktritts- oder Anfechtungserklärung zu.
Verletzungsfolgen nach VVG a. F.
Schuldhafte Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht
Bei schuldhafter Verletzung sind folgende Bestimmungen zu prüfen:
Rücktrittsrecht
Der VR kann vom Vertrag zurücktreten, wenn der VN einen ihm bekannten erheblichen Umstandes schuldhaft nicht anzeigt. Das Gleiche gilt für den Fall der falschen Anzeige.
Wegen des Verschweigens von Umständen, nach denen nicht ausdrücklich gefragt worden ist, kann der VR nur im Falle der Arglist des VN zurücktreten, z.B.: Ein vorbestrafter Brandstifter beantragt eine Feuerversicherung und verschweigt die Vorstrafe, weil im Antragsformular nicht danach gefragt worden war.
Allerdings ist der VN nicht verpflichtet, sich unaufgefordert der Begehung strafbarer Handlungen, die bislang unentdeckt geblieben sind, zu bezichtigen, wenn er sich dadurch überhaupt erst der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung aussetzen würde.
Die Wirkung des Rücktritts ist dieselbe wie nach bürgerlichem Recht. Das Vertragsverhältnis wird mit dem Zugehen der Rücktrittserklärung rückwirkend ab Beginn aufgelöst. Da empfangene Leistungen zurückzugewähren sind, kann die Gesellschaft auch bereits früher ohne Kenntnis des Rücktrittsgrundes geleistete Entschädigungen mit Zinsen zurückfordern. Dies gilt aber nur, soweit zwischen dem verschwiegenen Umstand und den schon eingetretenen Versicherungsfällen ein Kausalzusammenhang besteht (siehe weiter unten).
Aus dem Grundsatz der Unteilbarkeit des Beitrages und dem Wesen der Versicherungsleistung als Gefahrtragung folgt, dass dem VR nach WG a. F. gleichwohl der Beitrag bis zum Schluss der Versicherungsperiode gebührt, in der er von der Verletzung der Anzeigepflicht Kenntnis erlangt hat. In der Praxis wird regelmäßig der Beitrag nur bis zum Zeitpunkt des Rücktritts berechnet.
Bei einer rückkaufsfähigen Versicherung (Lebensversicherung) muss der VR den Rückkaufswert erstatten.
Prüfung der Kausalität (Leistungsfreiheit)
Der VR ist nur bei Kausalität leistungsfrei. Daher bestimmt § 21 VVGa.F.: Tritt der Versicherer zurück, nachdem der Versicherungsfall eingetreten ist, so bleibt seine Verpflichtung zur Leistung gleichwohl bestehen, wenn der Umstand, in Ansehung dessen die Anzeigepflicht verletzt ist, keinen Einfluss auf den Eintritt des Versicherungsfalles und den Umfang der Leistung des Versicherers gehabt hat.
Es besteht also keine Leistungspflicht des Versicherers, wenn der Versicherungsfall ursächlich auf den infolge der Verletzung der Anzeigepflicht unbekannt gebliebenen Umstand zurückzuführen ist. Den VN trifft die Beweislast dafür, dass der Umstand ohne Einfluss auf den Schaden geblieben ist.
Beispiel:
Ein VN schließt am 10. Okt. 2007 eine Lebensversicherung ab. Die Frage nach Vorerkrankungen wird vom VN mit einem Nein beantwortet, obwohl er weiß, dass er an Tuberkulose leidet. Am 15. Sept. 2008 stirbt der Versicherte an dieser Krankheit.
Prüfung:
• Vorvertragliche Anzeigepflicht verletzt? = ja
• Verschulden des Versicherungsnehmers? = ja
• Kausalität = besteht
(In diesem Fall hat der nicht angezeigte Umstand – die Tuberkuloseerkrankung – den Eintritt des Versicherungsfalles verursacht.)
• Besteht Leistungspflicht des Versicherers? = VR muss nicht leisten
Beispiel:
Fall wie vorstehend, jedoch stirbt der VN nicht an Tbc. Er fällt einem Verkehrsunfall zum Opfer.
Prüfung:
•Vorvertragliche Anzeigepflicht verletzt? = ja
•Verschulden des Versicherungsnehmers? = ja
•Kausalität = besteht nicht
•Besteht Leistungspflicht des Versicherers? = VR muss leisten
Nicht schuldhafte Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht
Bei nicht schuldhafter Verletzung sind folgende Bestimmungen zu beachten:
Kein Rücktrittsrecht
Der VN hat zu beweisen, dass die Anzeige ohne sein Verschulden und ohne Verschulden seines Vertreters oder solcher dritten Personen, für deren Verschulden er einzustehen hat, unterblieben oder unrichtig erfolgt ist.
Wenn dem VN der Gefahrenumstand nicht bekannt war – z. B. eine lebensbedrohende Erkrankung wurde ihm erst nach Vertragsabschluss bekannt – oder wenn ihn kein Verschulden trifft – z. B. die Fragestellungen im Antragsformular des VR waren missverständlich – bleibt der Vertrag gültig. Der VR hat kein Rücktrittsrecht.
Höhere Beiträge (Kündigungsrecht)
Es kann dem VR aber nicht zugemutet werden, das Risiko in allen Fällen zu dem ohne Kenntnis des Gefahrenumstandes festgesetzten Beitrag weiter zu tragen. Daher ist gesetzlich geregelt, dass der VR einen höheren Beitrag von dem Beginn der laufenden Versicherungsperiode fordern kann, falls diese im Hinblick auf die höhere Gefahr angemessen ist.
Wird die höhere Gefahr nach den für den Geschäftsbetrieb des VR maßgebenden Grundsätzen (Geschäftsplan) auch gegen einen höheren Beitrag nicht übernommen, so kann der VR das Versicherungsverhältnis unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von einem Monat kündigen.
In der Krankenversicherung ist § 41 WG a. F. nicht anzuwenden.
Der Anspruch auf den höheren Beitrag erlischt, wenn er nicht innerhalb eines Monats von dem Zeitpunkt an geltend gemacht wird, in welchem der VR von der Verletzung der Anzeigepflicht oder von den nicht angezeigten Umständen Kenntnis erlangt.
Beispiel:
Der VN hat sich nach Prospekt an der Nordsee ein Ferienhaus gekauft, welches lt. Katalog ein Hartdach haben sollte. Im Antrag auf Abschluss einer Feuerversicherung gibt der VN dies so an. Der Beitrag berechnet sich nach dem Risiko, also auch nach dem Hartdach. Bei einem persönlichen Besuch an der Nordsee stellt der VN fest, dass das Haus mit Ried (Schilf) gedeckt ist.
Der VN hat eine Obliegenheitsverletzung begangen, da er falsch angezeigt hat. Man kann aber annehmen, dass er nicht schuldhaft gehandelt hat. Wenn kein Verschulden vorliegt, dann ist das Rücktrittsrecht ausgeschlossen. Im vorliegenden Fall ist der VR berechtigt, den angemessenen Beitrag zu fordern, weil dieser mit Rücksicht auf die höhere Gefahr (hier Rieddach statt Hartdach) zu vertreten ist.
Umgekehrt hat der VN ein Recht auf Herabsetzung des Beitrages, wenn infolge irrtümlicher Angaben seinerseits ein zu hoher Beitrag festgesetzt worden ist.
Das Gleiche gilt, wenn wegen bestimmter, die Gefahr erhöhender Umstände ein höherer Beitrag vereinbart wurde und diese Umstände inzwischen weggefallen sind.
Rechtsfolgen bei arglistiger Täuschung
Bei arglistiger Täuschung durch den VN kann der VR den Vertrag anfechten.
Die Anfechtung vernichtet den Versicherungsvertrag von Anfang an, d. h., der VR kann unabhängig von Kausalität die erbrachten Leistungen zurückfordern.
Beispiel:
Ein VN schließt am 02. Jan. 2003 eine Lebensversicherung ab. Die Frage nach der Vorerkrankung beantwortet er mit Nein, obwohl er weiß, dass er an Tuberkulose leidet. Der VN hat bewusst diese Frage verneint, weil er mit Recht befürchtet, dass ein Vertrag nicht zustande kommt, wenn er die Frage wahrheitsgemäß beantwortet. Er täuscht absichtlich den VR, um sich oder seine Erben zu bereichern. Der Versicherte stirbt am 11. Mai 2008 bei einem Verkehrsunfall.
Prüfung:
•Vorvertragliche Anzeigepflicht verletzt? = ja
•Verschulden (Arglist) gegeben? = ja
•Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB gegeben? = ja
•Besteht Leistungspflicht des Versicherers? = VR wird leistungsfrei