Historisch betrachtet hat sich das Versicherungswesen in enger Wechselwirkung mit staatlicher Versicherungspolitik entwickelt. Neben der Versicherungsaufsicht, betrifft dies vor allem die Festlegung der rechtlichen Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich Versicherung vollzieht. Neben den Rechtsgrundsätzen, die die privatwirtschaftliche Entfaltung der Individualversicherung regeln und auch begrenzen, geschieht dies vor allem durch Maßnahmen, welche die Ziele und Geschäftsgestaltung bestimmter Versicherungsformen in einer Art und Weise festlegen, die unter Umständen von marktwirtschaftlichen Grundsätzen abweicht.
Zum einen kann der Staat dabei direkt als Versicherungsträger auftreten. Dies geschah in Deutschland bis zur Deregulierung 1994 in unterschiedlicher Gestalt, die vom eng reglementierten Monopolversicherer – etwa in der Gebäudeversicherung der Länder – bis zu weitgehend autonom unter Wettbewerbsbedingungen wirtschaftenden öffentlich-rechtlichen Versicherern reichte. Dieser Bereich staatlicher und staatsnaher Versicherungsunternehmen ist seither tiefgreifendem Wandel unterworfen; Näheres hierzu findet sich in unserem Versicherung-Ratgeber.
Andererseits hat sich in Deutschland ein umfangreiches Sozialversicherungswesen entwickelt, das von speziellen Rechtsträgern unter dem Dach der Sozialversicherungsgesetzgebung betrieben wird.
Ziele und Prinzipien der Sozialversicherung
Die gesetzliche Sozialversicherung entstand in Deutschland im Zuge von Bemühungen des Staates, unter politischer Aufsicht Risiken abzudecken, die im Zusammenhang mit der Erhaltung oder Wiederherstellung der menschlichen Arbeitskraft stehen. Demzufolge standen am Anfang die Gründung (1883) der gesetzlichen Krankenversicherung und der gesetzlichen Unfallversicherung (1884).
Beschränkte sich der gesetzlich sozialversicherte Personenkreis zunächst auf die Industriearbeiterschaft, wurden im Lauf der Zeit weitere Gruppen einbezogen, so etwa Angestellte (1911) und Handwerker (1938), also auch selbstständige Berufsgruppen. Auch die Zielsetzung erweiterte sich stetig, beispielsweise durch
Hinzunahme der Altersabsicherung mittels der Arbeiterrentenversicherung (1891) oder ab 1927 durch die Arbeitslosenversicherung.
Gesetzliche Stellung und Umfang der Sozialversicherung unterscheiden sich von Land zu Land. In Deutschland hat sich infolge der Erfahrung mit den Währungsreformen von 1923 und 1948 sowie einer sicherheitsbedürftigen Grundeinstellung der Bürger die staatsnahe Sozialversicherung nicht nur behaupten, sondern ihre Position stetig ausweiten können. Diese Tendenz manifestiert sich in der Einführung einer gesetzlichen Pflegeversicherung im Jahre 1995.
Hierzulande bildet das Sozialgesetzbuch (SGB), dessen Einführung sukzessiv seit 1973 geschieht, die Grundlage für die gesetzliche Sozialversicherung. Neben allgemeinen Grundsätzen der Sozialversicherung in den Büchern I und IV regelt es vor allem die Krankenversicherung (SGB V) und die Rentenversicherung (SGB VI), die 1989 bzw. 1992 aus der im Jahr 1911 erlassenen Reichsversicherungsordnung (RVO) ausgegliedert wurden. Die Pflegeversicherung wurde bei ihrer Verabschiedung 1995 in SGB XI übernommen. Für die Unfallversicherung wurde 1997 SGB VII verabschiedet. SGB III behandelt seit 1998 die Leistungen der Bundesagentur für Arbeit. Als vorläufig letzte Ergänzung folgte im Jahr 2005 SGB XII mit der Neufassung des Sozialhilferechts („Hartz IV“).
Während bereits Anfang der 80er Jahre damit begonnen wurde, Leistungen vor allem in der gesetzlichen Krankenversicherung einzuschränken oder ganz zu streichen, nahmen andererseits die Ausgaben der Sozialversicherung, ebenso wie die Belastung der Beitragszahler – bis auf kurzzeitige Ausnahmen – zu. Inwieweit die daran erkennbare Überdehnung der gesetzlichen Sozialversicherung durch die Tendenz zum Abbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse und die ab 2010 spürbar werdenden demografischen Verwerfungen diesen Trend umkehren oder hingegen sogar verstärken werden, bleibt abzuwarten.
Gegenwärtig lassen sich vor allem folgende materielle Kriterien anführen, um die gesetzliche Sozialversicherung gegenüber der Individualversicherung abzugrenzen:
• Konzentriert sich die Sozialversicherung immer noch auf Risiken, die sich auf die menschliche Arbeitskraft beziehen, deckt die Individualversicherung alle Risiken ab, die nach ökonomischen Kriterien überhaupt versicherbar sind. Kann zudem in der Individualversicherung nahezu jeder gewünschte Leistungsstandard versichert werden, gewährt die Sozialversicherung in der Regel eine standardisierte Grundversorgung.
• Die gesetzlichen Sozialversicherungen sind Pflichtversicherungen, das heißt, die einbezogenen Personengruppen müssen sich bei einem der zugelassenen Träger versichern. Dies geht über eine reine Versicherungspflicht, wie etwa derjenigen für Kraftfahrzeughalter, hinaus, da nicht nur die Versicherung an sich zwangsweise erfolgt, sondern auch der Trägerkreis auf die gesetzlichen Sozialversicherungsträger begrenzt ist. Allerdings gibt es Ausnahmen.
Beispiele:
Die gesetzliche Krankenversicherung kann bei Überschreiten bestimmter Einkommensgrenzen zugunsten privater Krankenversicherungsunternehmen verlassen werden. Umgekehrt können Bezieher höherer Einkommen der gesetzlichen Krankenversicherung als freiwillig Versicherte beitreten. In der gesetzlichen Rentenversicherung gab es bis in die 70er Jahre die Möglichkeit, sich von der Versicherung befreien zu lassen, wenn ersatzweise eine mindestens wertgleiche private Altersvorsorge finanziert wurde (so genannte Befreiungsversicherung).
• In der Individualversicherung erfolgt die Beitragsfestsetzung auf der Grundlage des individuellen Risikos; es gilt das individuelle versicherungsmathematische Äquivalenzprinzip von Beitrag und Leistung. In der Sozialversicherung hingegen orientiert sich die Beitragsbemessung in erster Linie an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit – sprich: Einkommenshöhe – des Versicherten.
Finanzierung der Sozialversicherung
Die Finanzierung der Sozialversicherung gehorcht näherungsweise dem Prinzip der kollektiven periodenbezogenen Äquivalenz. Dies bedeutet, dass in einem begrenzten Zeitraum von typischerweise einem oder wenigen Jahren die Gesamtheit der gezahlten Versicherungsleistungen, einschließlich der Aufwendungen für den Versicherungsbetrieb und die Verwaltung der Gesamtsumme, den eingezahlten Beiträgen der Versicherten entsprechen muss. Aus drei Gründen ist das jedoch nicht gleichbedeutend mit der Gültigkeit des individuellen Äquivalenzprinzips.
• Auch als Barwert über die gesamte Lebenszeit betrachtet, müssen Beiträge und beanspruchte Leistungen versicherungsmathematisch nicht übereinstimmen. Die Beitragszahlung orientiert sich vielmehr am Prinzip des sozialen Ausgleichs, nach dem die Leistungen für geringverdienende Versicherte durch Beitragszahlungen von besserverdienenden Versicherten mitfinanziert werden.
• Im Betrachtungszeitraum kann von der Äquivalenz abgewichen werden, wenn sich Leistungen und Beitragseinnahmen auseinanderentwickeln. In diesem Fall steht, wie in manchen Zweigen der Individualversicherung, das Instrument der Beitragserhöhung zur Verfügung; vielfach werden Fehlbeträge auch über Zuschüsse aus Steuermitteln ausgeglichen. So wird etwa ein Drittel der laufenden Zahlungen der gesetzlichen Rentenversicherung über diverse steuerfinanzierte Bundeszuschüsse gedeckt; begründet werden diese Zuschüsse mit dem Charakter von Teilleistungen als versicherungsfremd, das heißt, einzelne Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung wie die Witwenrente orientieren sich nicht an zuvor gezahlten Versicherungsbeiträgen.
• Der Gesetzgeber kann jederzeit maßgeblich in die Gestaltung der Leistungsstruktur eingreifen. So wurde über Jahrzehnte immer wieder der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung eingeschränkt oder in Versicherungskomponenten ausgelagert, für die ein besonderer Beitrag erhoben wird, zuletzt geschehen 2005 bei der Versicherung von Zahnersatzleistungen.
Langfristige Versicherungsverträge werden in der Individualversicherung nach dem Prinzip der Kapitaldeckung oder Anwartschaftsdeckung finanziert. Für zukünftige Leistungen werden also Rückstellungen aufgebaut, die in späteren Vertragsphasen wieder aufgezehrt werden. Demgegenüber ist der dominierende Finanzierungsmechanismus in der Sozialversicherung das Umlageverfahren. Hierbei werden die laufenden Beitragseinnahmen zur Finanzierung der in der gleichen Periode fälligen Leistungen verbraucht.
Der Vorteil kapitalgedeckter Finanzierungsmechanismen liegt im risikobezogenen Sparvorgang, bei dem die erwarteten Leistungen durch Beitragszahlungen in frühen Jahren vorfinanziert werden. Auf diese Weise lassen sich zeitlich auseinanderfallende Beitragszahlung und Leistungserbringung koppeln. Nachteilig ist demgegenüber die Unkalkulierbarkeit der Geldwertentwicklung. Kapitaldeckungen werden einerseits verzinst, verlieren andererseits aber inflationsbedingt kontinuierlich an Wert, was bei turbulenten Währungsentwicklungen etwa infolge von Kapitalmarktkrisen oder staatlicher Überschuldung nicht mehr durch die Zinserträge ausgeglichen werden kann.
Umlagefinanzierte Systeme sind gegenüber Geldwertverlusten weniger anfällig, da die laufenden Beiträge unmittelbar zur Leistungserbringung verwendet werden und so immer eine Anbindung dieser Leistungen an die aktuelle Wirtschafts- und Kaufkraftentwicklung möglich ist. Andererseits wird dadurch die wertmäßige Beziehung zwischen individuellen Beiträgen und individuellen Leistungen stark gelockert, sodass diese Finanzierungsart auf die eher kollektiv ausgerichtete Risikodeckung der Sozialversicherung beschränkt bleibt.
Zur Abdeckung des Schwankungs- und Änderungsrisikos, also statistischer Abweichungen der tatsächlichen Leistungsentwicklung von der vorhergesagten, sollen wie in der Individualversicherung Schwankungsreserven vorgehalten werden. Deren Höhe unterliegt aber keiner risikotheoretischen Kalkulation, sondern richtet sich in starkem Maße nach politischen Erwägungen. So wurde die Mindestschwankungsrückstellung der gesetzlichen Rentenversicherung mehrfach abgesenkt, um Anhebungen der Beitragssätze zu vermeiden; sie betrug zuletzt (2007) 0,2 durchschnittliche Monatsausgaben.
Die Beitragsbemessung geschieht in aller Regel in Prozent des beitragspflichtigen Einkommens versicherungspflichtiger Arbeitnehmer. Die Beitragspflicht endet bei einer bestimmten Beitragsbemessungsgrenze, die jährlich der allgemeinen Einkommensentwicklung angepasst wird. Für Einkommensbestandteile, die oberhalb der Bemessungsgrenze liegen, sind keine Sozialversicherungsbeiträge zu entrichten. Ein Teil des Beitrages wird vom Arbeitgeber getragen. Dieser Anteil beträgt zumeist 50%, in der gesetzlichen Krankenversicherung wird darüber hinaus seit 2007 ein Beitrag von 0,9 % zur Finanzierung von Zahnersatzleistungen erhoben. Für die Beitragsberechnung und Beitragszahlung bei geringfügig Beschäftigten und Arbeitslosen gelten Sonderregelungen.